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Letzte Handgriffe. Heinrich Harry Deierlings „Selbstporträt im Spiegel“ wird in die Ausstellung eingefügt. Konrad Adolf Lattners Mann mit Hut hängt schon.

©  Thilo Rückeis

Kunststadt Berlin: Selfie in Öl

Surrealismus und Neue Sachlichkeit passen gut unter ein Dach: Bei Scharf-Gerstenberg wird die nächste Ausstellung vorbereitet.

Spiegelschrift müsste man jetzt lesen können. Dann wäre ruckzuck zu entziffern, was unten links auf dem Gemälde steht. So dauert es eben etwas länger. „Kunst und Wirtschaft“, der Name einer Zeitschrift aus den späten zwanziger Jahren – vielleicht ein verkappter Kommentar des Künstlers zur desolaten Lage der Weltwirtschaft im Allgemeinen und seiner eigenen im Speziellen. Denn der große Durchbruch ist Heinrich Harry Deierling nicht gelungen, und selbst wenn er sich halbwegs durch die Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen in Berlin gekämpft haben sollte: Ab 1933 galt auch er als „entartet“, musste sich mit einem Laden für besondere Brote über Wasser halten. An Ausstellungen, Verkäufe gar, war nicht mehr zu denken.

„Selbstporträt im Spiegel“ heißt das 1929, im Jahr des Börsenkrachs geschaffene Bild, das am Mittwoch im Haus der Sammlung Scharf-Gerstenberg gehängt wurde, vorbereitend auf die kurz vor der Eröffnung stehende Ausstellung „Surreale Sachlichkeit. Werke der 1920er und 1930er Jahre aus der Sammlung der Nationalgalerie“. Rund 80 Werke werden dort zu sehen sein, Surrealismus hier, Neue Sachlichkeit dort, zwei etwa gleichzeitig Anfang der 20er Jahre in Frankreich und Deutschland entstandene Kunstrichtungen, die, wie Kuratorin Kyllikki Zacharias zeigen will, allerhand gemeinsam haben. Werke berühmter Künstler wie Otto Dix, Max Ernst oder René Magritte werden gezeigt, aber eben auch die unbekannter oder vergessener Künstler wie Heinrich Harry Deierling.

Viele Werke gingen im Bombenkrieg verloren

Geboren 1894 in Philadelphia und 1900 mit den Eltern nach Berlin gekommen, begann er hier 1908 eine Lithographenlehre, bildete sich an der Abendschule des Kunstgewerbemuseums weiter, arbeitete als Theatermaler und freier Künstler. Von 1919 bis 1933 war er Mitglied der Berliner Secession, kehrte nach einer eher kubistischen Phase unter dem Einfluss von Marc Chagall und des Blauen Reiters wieder zu leuchtenderen Farben und gegenständlicher Malerei zurück, wurde nach 1933 erst verboten und 1943 während eines Bombenangriffs auf Berlin fast seines gesamten Werks beraubt.

1946 trat er dem Schutzverband bildender Künstler , später in der DDR dem Verband Bildender Künstler bei, konnte aber von seiner Arbeit als Maler weiterhin nicht leben. Er war daher zwischen 1949 und 1956 Strandkorbverleiher in Grünau, wechselte dann als Angestellter ins Strandbad Müggelsee und später als Platzmeister auf den Sportplatz Rahnsdorf. Erst 1971 versuchte er sich wieder als freischaffender Künstler, aber mit seiner Vorliebe für die abstrakte Malerei, die sich inzwischen wieder durchgesetzt hatte, war er nun wieder Außenseiter. Für Sozialistischen Realismus war er nicht zu haben. 1989, kurz vor der Wende, starb er.

Der Kuratorin erscheint Deierling typisch für seine Generation, gerade auch durch seine Unbekanntheit. Maler wie er machten zwei Weltkriege und zwei schwere Wirtschaftskrisen durch, waren dann im Westen Außenseiter, wo die abstrakte Malerei hochgehalten wurde, lagen im Osten quer zur sozialistischen Kulturpolitik. Immerhin wurde 1980 das jetzt gezeigte Gemälde von der Nationalgalerie angekauft – anlässlich der ersten großen, nur ihm gewidmeten Ausstellung in der Galerie Berlin des Staatlichen Kunsthandels der DDR.

„Surreale Sachlichkeit“, 13. Oktober bis 23. April , Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstraße 70, Charlottenburg.

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