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Dokumentiert: Resolution des Landesvorstandes der Berliner SPD

Auf seiner gestrigen Sitzung hat der erweiterte Landesvorstand der Berliner SPD folgende Resolution zur aktuellen Lage beschlossen:

Die SPD hat mit 22,9 Prozent eine dramatische Wahlniederlage erlitten, die in der bundesdeutschen Geschichte der Sozialdemokratie einmalig ist. Der Substanzverlust der Volkspartei SPD hat eine Qualität erreicht, die wahrnehmbare personelle und strategische Veränderungen in der Parteiführung und in ihrer Politik erforderlich machen.

Der drastische Verlust an Wählerstimmen ist Teil eines längerfristigen Prozesses des Verlustes an Wählervertrauen, der nach 1999 mit dem Blair-Schröder-Papier („neue Mitte“) und der sog. Reformpolitik der „Agenda2010“ ab 2003 einsetzte. Dieser wahrgenommene Bruch mit dem programmatischen Kern der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit und der „kleinen Leute“ mündete in einen bis heute andauernden nachhaltigen Verlust von traditionellen Wählerschichten ohne dass dauerhaft relevante neue Wählerschichten erschlossen werden konnten. Die „Politik der Mitte“ ohne festes Standbein im traditionellen Wählermilieu ist offensichtlich gescheitert.

Zum ersten Mal seit 1998 erreicht das konservativ-liberale Lager in Deutschland bei einer Bundestagswahl eine Mehrheit der Wählerstimmen. Im Vergleich zu 1998 konnte die SPD am 27. September 2009 mit etwa 10 Millionen Wählerinnen und Wähler nur noch rund die Hälfte der Stimmen an sich binden. Die Situation ist vertrackt: die Wählerinnen und Wähler sind zu ungefähr gleichen Teilen an CDU/CSU, Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen abgewandert. Zu kleineren Teilen verlor sie an die FDP, vor allem aber zum größten Teil an das Lager der Nichtwähler. Dies zeigt dreierlei:

• Es ist der SPD nicht gelungen, sich innerhalb der Koalition glaubhaft zu profilieren. Im Gegenteil: die SPD verlor in den vier Jahren durch die Politik der „großen Koalition“ in wesentlichen Bereichen ihre Unterscheidbarkeit zur Union, obwohl es eine erkennbare sozialdemokratische Handschrift der Koalition gab.

• Taktisch hat sich die SPD zur Bundestagswahl 2009 in eine selbstgestellte Falle manövriert: Es wurde bislang nicht ernsthaft versucht, einen kritischen Dialog zwischen SPD, Linkspartei und Grünen über gemeinsame wie trennende Ziele und Perspektiven zu etablieren. Durch den Ausschluss von Koalitionsoptionen standen damit faktisch nur die beiden unpopulären Optionen einer Ampel und einer erneuten schwarz-roten Koalition im Raum.

• Letztlich ist es nicht gelungen, sich ein eigenständiges Profil zu erarbeiten. Dieses unscharfe Profil der SPD, ihr zögerlich Agierenden und die mehr als wackelige strategische Ausrichtung in den Koalitionsaussagen führte unterm Strich zu einer Situation, mit der viele Wählerinnen und Wähler nicht (mehr) erreicht werden konnten – trotz eines klaren Wahlprogramms.

Wesentliche Akteure der SPD wie Steinmeier, Steinbrück und Müntefering sind untrennbar mit der Agenda-Politik ab 2003 bzw. der abgewählten „Großen Koalition“ ab 2005 verbunden. Bei der notwendigen Neuaufstellung der SPD für die kommenden Jahre ist daher ein glaubwürdiger Neuanfang nur möglich, wenn es auch zu personellen Veränderungen an der Parteispitze kommt. Das hat nicht nur mit dem medialen Aspekt einer wahrnehmbaren Reaktion auf die Wahlniederlage zu tun, sondern insbesondere mit der Notwendigkeit einer personell unterlegten Glaubwürdigkeit in Richtung rot-rot-grüner Politikalternativen und einer selbstkritischen Analyse der SPD-Politik seit 1999.

Das katastrophale Ergebnis auf Bundesebene spiegelt sich im schlechten Berliner Ergebnis. Die Ergebnisse der Bundestagswahlen sagen zwar nur bedingt etwas über die Landespolitik aus, die differenzierten Ergebnisse in Brandenburg belegen das: Während Ministerpräsident Matthias Platzeck mit 33 Prozent bestätigt wurde, ist die Brandenburg SPD bei der Bundestagswahl mit 25,1 Prozent nur noch zweitstärkste Kraft hinter der Linkspartei und verlor fünf Direktmandate.

Dennoch muss die Berliner SPD ihre schlechten Ergebnisse ernst nehmen. 20,2 Prozent ist mit 14 Prozentpunkten Verlust zwar keine Besonderheit in der Negativ-Liste der bundesdeutschen SPD-Landesverbände. Die SPD holt nur zwei der zwölf Direktmandate. Allerdings manifestiert sich mit knapp 60 Prozent eine klare Mehrheit des linken Lagers in Berlin mit gegenseitigen Ansätzen zur Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss klar sein: Linkspartei und Grüne sind politische Konkurrenz, die im gleichen Lager Wählerinnen und Wähler ansprechen. Eine Profilierung auch innerhalb dieses fortschrittlichen Lagers ist und bleibt in Hinblick auf 2011 zwingend notwendig.

Die schmale Wählerbasis, auch bei den Personenwahlen in den Wahlkreisen, belegt aber auch die Notwendigkeit, als Berliner SPD mit dem Regierenden Bürgermeister stärker als „Berlin-Partei“ wahrgenommen zu werden. Die Wählerbasis muss durch erhöhte Präsenz und Lösungskompetenz vor Ort in Berlin deutlich angehoben werden. Die SPD muss wieder stärkste Partei in der Hauptstadt werden, wenn sie bei der anstehenden Neuaufstellung der Bundes-SPD und der Gestaltung Berlins eine Rolle spielen will. Ohne festes Standbein in punkto soziale Gerechtigkeit, macht es keinen Sinne das Spielbein in der Mitte und nach rechts zu schwingen. Auch und gerade in Berlin muss die SPD deshalb unverwechselbar linke Volkspartei sein und ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Das Programm dafür haben wir und die notwendigen Schwerpunkte wurden ebenfalls formuliert – nun ist es an uns und an den handelnden Personen, sie wahrnehmbar umzusetzen.

Erste Anforderungen:

a. Personelle Erneuerung

Die Parteivorführung muss sich personell erneuern und verjüngen. Dabei steht vor allem die Notwendigkeit im Mittelpunkt, eine neue Phase sozialdemokratischer Politik nach Rot-Grün und Großer Koalition auch personell zu unterlegen. Der Bundesparteitag im November bietet daher die Chance, die Führung der Partei in neue Hände zu legen. Entscheidungen hierzu werden in den nächsten Tagen fallen.

b. Inhaltliche Profilierung

Mit ihrem Hamburger Programm ist die SPD gut aufgestellt. Auch das Wahlprogramm für die Bundestagswahl hat die richtigen programmatischen Anforderungen formuliert. Der SPD ist es jedoch nicht gelungen, aus den richtigen programmatischen Grundlagen ein für die Wählerinnen und Wähler erkennbares, attraktives politisches Profil abzuleiten. Unter der Führung der SPD müssen neue Koalitionsalternativen aufgezeigt werden.

c. Strategische Ausrichtung

In der Vergangenheit hat die SPD die Linkspartei zunächst ignoriert, dann tabuisiert. Beides war wenig erfolgreich. Es war und ist richtig, der Linkspartei für die Bundestagswahl 2009 die Regierungsfähigkeit abzusprechen. In den kommenden Jahren kommt es aber darauf an, Bedingungen zu stellen und der Linkspartei außenpolitische Verlässlichkeit und ökonomische Rationalität abzufordern. Nur so kann die Linkspartei zur Regierungsfähigkeit gezwungen und so verhindert werden, dass sie als reine Protestpartei unzufriedene Wählerstimmen einsammelt.

Die politische Auseinandersetzung muss sich darauf konzentrieren, dass die gesellschaftliche Linke in Deutschland wieder eine Mehrheit erhält und die sie tragenden Parteien untereinander koalitionsfähig werden. Dies ist nur dann möglich, wenn die SPD die Nichtwähler dieser Wahl wieder aktiviert. Und künftig auf kontraproduktive Tabuisierungen einzelner Koalitionsoptionen verzichtet.

Durch die Erneuerung der SPD in ihrer Rolle der Opposition wird die politische Aufmerksamkeit sich stärker als bisher auch auf die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und SPD-Minister erstrecken. Diesen kommt daher eine besondere Verantwortung zu. Deshalb hat die Bildung von Landesregierungen unter Einschluss der Linkspartei unter den neuen Vorgaben einer schwarz-gelben Bundesregierung eine hohe taktische (Bundesrat) und strategische (Machtoptionen für die Zukunft) Bedeutung.

Berlin zeigt mit seiner Regierungskoalition aus SPD und Linkspartei, wie sich rot-rote Zusammenarbeit in gute Politik für das Land umsetzen lässt. Berlin kann als Beispiel für neue Perspektiven stehen.

d. Wegmarken: Bundesparteitag 2009 und Perspektivparteitag 2010

Neben dem Bundesparteitag im November, der einen neuen Vorstand wählt und erste Schlüsse für die Neuformierung der SPD in der Opposition im Bund zieht, ist eine längere Perspektivdiskussion notwendig. Wir schlagen daher vor, im Herbst 2010 zu einem außerordentlichen Bundesparteitag zusammen zu kommen, der inhaltliche, strategische und organisationspolitische Perspektiven erarbeitet. Ihm vorangestellt ist eine Diskussion in den Gliederungen der SPD, deren Beiträge für den Parteitag 2010 aufbereitet werden.

Der Anspruch der SPD muss es weiter sein, als Volkspartei auch Mitgliederpartei zu bleiben, dazu gehört es der Entfremdung zwischen Parteiführung und Mitgliedschaft aktiv entgegenzuwirken. Die SPD muss die kommende Zeit der Opposition nutzen, um zu alter Stärke und neuer Kraft zu kommen.

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