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Berlin: Lebenspate im Brennpunktkiez

Stefan Schlede gibt Privatunterricht an der Kurt-Löwenstein-Hauptschule. Dort sind viele Eltern arbeitslos. Und viele Schüler ohne Perspektive

Und was haben wir beim letzten Mal gemacht? „Na, dingsda, äh...“. Und was möchtest du mal werden? „Also, Dings, na, wie...“ Und wozu braucht man einen Schulabschluss? „Der Dings, der Chef, der...“ Hamid, Samia, Malak und Sahra haben ein Dingsda-Problem, sie sprechen erst und überlegen dann, was sie sagen möchten.

Stefan Schlede, weißes Haar, gegerbtes Gesicht, grob gewebtes Sakko, lächelt und dirigiert. Er war mal Politiker und leitete eine katholische Gesamtschule, jetzt ist er Lesepate an der Kurt-Löwenstein-Hauptschule im Brennpunktkiez Nordneukölln. Lesepate passt nicht, besser ist es, Lernpate zu sagen. Manchmal ist er auch Lebenspate. Einige Schüler schwänzen den Unterricht und drohen zu verwahrlosen.

Hamid und seine Mitschülerinnen durchlaufen die neunte Klasse. Berufswahl ist für sie regelmäßiges Unterrichtsthema. Fragebögen sind auszufüllen, aber wer versteht schon alle Fragen? Was sind Medien, will Malak wissen. Hamid stolpert über „Instandhalten“. Sahra kann mit Textilien nichts anfangen. „Ach so, Klamotten.“ Warum schreiben die nicht Klamotten?

Hamid hat türkische Eltern, die Mädchen kommen aus arabischen Familien. Ihre Eltern sind überwiegend arbeitslos. Sahra hat sechs Geschwister und findet, dass man bei so vielen Kindern automatisch gutes Deutsch lerne. Eigentlich beherrsche sie schon alles, was Erzieher in der Kita können müssen: Von Eins bis Zehn zählen, Deutsch sprechen, Aufpassen, Spazierengehen. „Das geht auch mit ohne.“ Mit ohne Schulabschluss. Stefan Schlede widerspricht und weiß, dass Sahra mit wohl gesetzten Worten kaum zu überzeugen ist. Was Berufe und Abschlüsse bedeuten, ist nur das Thema im Vordergrund. Eigentlich geht es um Textverständnis, um das kritische Hinterfragen von Gedrucktem auf Papier. Die Fragebögen haben Schwachstellen, die es zu entlarven gilt.

Für zwei Stunden in der Woche bietet Schlede vier bis fünf Schülern eine Art Privatunterricht. Der Klassenlehrer ist entlastet, und die Schüler können in ruhiger Atmosphäre Fragen stellen, die sie sich vor der Klasse nicht trauen. Vier Lernpaten gibt es an der Löwensteinschule. Es könnten noch mehr sein, aber an Hauptschulen eingesetzt zu werden, davor schrecken viele Patenschaftskandidaten zunächst zurück. Einige hätten den Bettel nach einem unangenehmen Zusammentreffen mit aggressiven Schülern auch wieder hingeworfen, sagt Schlede, aber das seien nur Einzelfälle.

Schlede koordiniert den Einsatz von derzeit 98 Lernpaten an 21 Hauptschulen. Es gibt Schulen mit 20 Lesepaten, die meisten haben nur einen oder zwei, viele verzichten ganz, wegen der zusätzlichen Organisationsarbeit.

Warum er sich das mit 69 Jahren noch antut? Diese Frage zielt völlig daneben. Schlede ist multiaktiv, Mitglied in diversen Kuratorien, Vorständen und Beiräten. Daneben sammelt er historische Spielkarten und arbeitet für die „International Playing-Card Society“. „Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Freizeit zu planen.“

Schule sei eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Schlede, der in den 90er Jahren in die Politik ging, zunächst als Bildungsstadtrat in Zehlendorf und danach für die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Sein Vorbild sind die „Volunteers“ in den USA und Kanada.

Hamid, Sahra, Malak und Samia wissen übrigens längst, was sie werden wollen: Chauffeur, Friseurin, Sekretärin und Erzieherin oder Bankkauffrau. Sie wissen nur nicht wie.

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