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Berlin: Lesen und lesen lassen

Es muss ja nicht gleich ein Bestseller sein: Nachwuchs-Autoren finden in Clubs ein dankbares Publikum

Beim ersten Mal war das Lampenfieber kaum auszuhalten. Schon zwei Tage vor ihrem Auftritt konnte Céline Robinet nichts mehr essen, und den ganzen Weg zum Club wünschte sie sich, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden: „Das wäre die perfekte Ausrede gewesen, um nicht vorlesen zu müssen.“

Inzwischen ist die Französin gelassener geworden. Seit zwei Jahren geht sie regelmäßig zum „Poetry Slam“ – dem Dichterwettstreit, bei dem pro Abend zehn bis 15 Autoren ihre eigenen, kurzen Texte vortragen. Erlaubt ist, was nicht länger als fünf Minuten dauert: Gedichte, Kurzgeschichten, Hip-Hop-Verse. Jeder Teilnehmer bekommt Noten von der Jury, auf einer Punkteskala zwischen eins und zehn. Dem Sieger winken Preise und Respekt von der Konkurrenz. Kann man so gute von schlechter Literatur unterscheiden? „Wahrscheinlich nicht“, sagt Céline, aber Spaß mache es trotzdem. Teilnehmen kann jeder, die meisten Vorleser betreiben Slam Poetry nur als Hobby. Auch das Thema der Texte kann frei gewählt werden, meistens geht es um Zwischenmenschliches oder banale Dinge wie unaufgeräumte Zimmer und gestohlene Fahrräder. Das kann ironisch sein, muss aber nicht. „Die Zeiten, in denen in jedem Satz mindestens eine Pointe stecken musste, sind zum Glück vorbei“, sagt Wolf Hogekamp. Der Mittvierziger ist Gründer des Bastard-Slams in der Kastanienallee und beobachtet seit einiger Zeit eine „Rückkehr der lange verpönten sozialkritischen Texte“. Nur das leidige Thema „Trennung von der letzten Freundin“ wollten Publikum und Jury nicht mehr so gerne hören.

Im Gegensatz zum Poetry Slam sind die vielen Berliner Lesebühnen schon fast eine geschlossene Gesellschaft. Hier gibt es nur ein „offenes Mikro“ für einzelne Freiwillige aus dem Publikum, ansonsten liest die Stammbesetzung. Die besteht in der Regel aus vier oder fünf Autoren, es gibt weder Jury noch Wertungen. Ein ganz Großer in der Lesebühnen-Szene ist der 34-jährige „Spider“ alias Andreas Krenzke, der zum festen Kern mehrerer Bühnen gehört und pro Woche mindestens zwei neue Texte schreibt. Es sei denn, ihm fällt nichts ein: „Dann muss ich darauf hoffen, dass den Leuten nicht auffällt, dass sie meinen Text schon kennen.“ Auf der Bühne gibt Spider gern den verschrobenen Außenseiter, dem im Leben viel misslingt, der ständig nach Ausreden sucht und der sich Flöhe als Haustiere hält. Das mag man albern finden und postpubertär – wer Spiders Lesungen miterlebt, wird ihn verstehen und lieben.

Rund ein Dutzend Lesebühnen gibt es in der Stadt, alle sind gut besucht. Abgesehen von Veranstaltungen in München und Hannover sind die Bühnen ein rein Berliner Phänomen – warum auch immer. In den vergangenen zehn Jahren haben es einige Autoren zu gewisser Prominenz gebracht, allen voran Wladimir Kaminer. Andere haben Bände mit Kurzgeschichten bei großen Verlagen wie Fischer oder Rowohlt veröffentlicht. Auffällig ist die schwache Frauenquote auf den Bühnen. Da geht es beim Poetry Slam deutlich gemischter zu, aber auch hier würden Frauen anders behandelt als Männer, sagt Céline. „Richtig schmutzige Texte dürfen nur die Männer vorlesen, von uns erwartet man Gefühle und Niedlichkeit.“ Das merke sie auch an den Bewertungen der Jury: Als Céline einmal einen Text über ein Mädchen vorgetragen habe, das vier Monate lang ohne Unterbrechung an Durchfall litt, hätten sie die Punktrichter anschließend fertig gemacht. „Wenn das aber ein Kerl vorgetragen hätte, wären die wahrscheinlich tot umgefallen vor Lachen.“

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