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Berlin: Lieber Graffiti als Kirchenprunk

Vor 150 Jahren wurde St. Lukas in Kreuzberg eingeweiht. Der Baustil war für damalige Zeiten revolutionär Seit 2009 nutzt die Stadtmission den Stüler-Bau und organisiert ein Gemeindeleben in schwierigem Umfeld

Es gibt wenige Orte, an denen ein Talar so deplatziert wirken kann. Von Kirche keine Spur. Das Büro misst höchstens acht Quadratmeter. Auf dem Schreibtisch wuchern Prospekte und Bücher neben einem in die Jahre gekommenen PC-Monitor. In jeder Ecke des Raumes steht nützliches und weniger nützliches Gerät. Und dann gibt es eben noch dieses schwarze Stück Stoff mit dem weißen Kragen, ganz rechts hinten auf einem Bügel. Die St. Lukaskirche ist eine Gemeinde im Umbruch. Nicht zuletzt zeigte das die jüngste Statistik zur Bevölkerungsentwicklung: Die Gegend rund um den Askanischen Platz verzeichnet den höchsten Einwandereranteil in Berlin.

Vor zwei Jahren hat die evangelische Stadtmission das Gotteshaus an der Bernburger Straße übernommen. Und mit dem Umzug begann eine neue Episode in der an Episoden nicht armen Geschichte dieses Gotteshauses, das Mitte des 19. Jahrhunderts vom Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler errichtet wurde. 1861. Fast auf den Tag genau vor 150 Jahren wurde die erste Straßenfrontkirche Berlins eröffnet: Bis dahin wurden Gotteshäuser als Solobauten errichtet.

Stephan Seidel ist 32 Jahre alt und der Mann, der eigentlich in den schwarzen Talar gehört, jetzt trägt er aber eine Sportjacke und Jeans. Der Pastor ist kein Typ für die Abteilung Tradition, er möchte etwas Neues beginnen, „Kirche anders denken“, wie er sagt. Besonders am Herzen liegt ihm sein Abendgottesdienst „Doppelpunkt“. Mit Themen wie „Die Unlogik der Barmherzigkeit“ oder auch „Ist Gott ein Huhn?“ will er Neugierde wecken abseits des klassischen Sonntagmorgens: „Ich möchte junge Leute aus meiner eigenen Lebenswirklichkeit in die Kirche einladen, ohne dabei unbedingt über Liturgie sprechen zu müssen.“ Es kommt sehr locker daher, was Seidel einem zu erzählen hat. Das Schwere, Sakrale geht dem gebürtigen Brandenburger völlig ab. Nur manchmal schleicht sich ein ernster Unterton in seine Worte: „Gott hat auch eine dunkle Seite. Es gibt Dinge auf dieser Welt, für die habe ich keine Antworten parat.“

Der Krieg setzte St. Lukas gewaltig zu. Das Berliner Amt für Stadtwesen stellte 1950 einen Zerstörungsgrad von deutlich über 70 Prozent fest, der Abriss war eigentlich unvermeidlich. Es war der damalige Pfarrer, der das Aus für die Gemeinde noch einmal abwenden konnte. Beharrlich handelte er mit dem Bauamt eine Abstufung des Zerstörungsgrades auf 48 Prozent aus. St. Lukas wurde unter Denkmalschutz gestellt und wiederaufgebaut, allerdings deutlich kleiner und schlichter. Vom einst 40 Meter langen Kirchenschiff blieb weniger als die Hälfte. Und die Geschichte meinte es weiterhin nicht gut mit der Gemeinde. Nach der Teilung Berlins fristete St. Lukas ein Nischendasein, im Schatten von Mauer und Stacheldraht. Auch als der Kiez um den Askanischen Platz nach 1990 wieder in die Mitte der Stadt rückte, änderte das nichts. Zwar hielt das Abgeordnetenhaus regelmäßig seine Gottesdienste ab, doch ansonsten blieben die Bänke häufig leer. So entschloss sich die Gemeinde, die 2001 mit der Friedrichstadt-Kirchengemeinde fusioniert war, vor zwei Jahren, das Haus aufzugeben. Die zweite Predigtstätte, der Französische Dom am Gendarmenmarkt, war in der Regel deutlich besser besucht. Und mit der Stadtmission konnte ein Nutzer gefunden werden.

„Das ist eine reizvolle Ecke mit einem sehr interessanten Milieu gerade für unsere Gemeindearbeit“, sagt der heutige Pastor von St. Lukas Stephan Seidel. Die diakonische Arbeit im sozialen Bereich ist eine seiner Hauptaufgaben: „Es gibt rund 200 Familien, die uns relativ regelmäßig besuchen. Ein Großteil von ihnen stammt aus einem sehr schwierigen sozialen Umfeld.“ Der Pastor und sein Team wollen diesen Familien soziale Kompetenzen vermitteln – etwa Wege aufzeigen, Konflikte friedlich zu lösen. Die eigentliche Dimension der Projekte geht aber über diese rein praktische Ebene hinaus: „Im Kern dreht es sich immer um dieselbe Frage: Was kann ich mit mir anfangen und worauf kommt es in meinem Leben wirklich an?“

Das Kircheninnere von St. Lukas ist betont schlicht. Auf Prunk wurde während der Renovierung verzichtet, nur vier Graffiti des Berliner Künstlers Sigmund Hahn schmücken die sonst kahlen, weißen Wände. Die modern-figürlichen Wandmalereien zeigen die Kirchenheiligen, aber auch eine angedeutete Szene aus dem Dschungelkrieg in Vietnam und Korea. Pastor Seidel kommt diese Nüchternheit gerade recht: „Es ist nicht so erschlagend, so gar nicht barock. Das gefällt vor allem den Jüngeren.“

Seidel möchte das Jubiläum nun nutzen, um noch mehr Menschen für seine junge Kirchengemeinde zu begeistern. Es gibt ein langes Programm der Feierlichkeiten, den Auftakt macht ein Festgottesdienst am kommenden Sonntag. Im Laufe des Jahres wird es dann über 20 Veranstaltungen geben, von Konzerten über Familienfreizeiten bis hin zum abschließenden Straßenfest am 14. September. Stephan Seidel glaubt fest an eine Zukunft seiner Gemeinde: „Es war immer ein Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, es gab Schwankungen nach oben und nach unten. Jetzt ist es wieder Zeit für einen Aufbruch.“

Am Sonntag um 11 Uhr findet ein Festgottesdienst zum 150. Jubiläum statt. Mehr Informationen: www.berliner-stadtmission.de/kberg_lukas.html. Zum Jubiläum ist außerdem eine Festschrift erschienen.

Ferdinand Dyck

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