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Berlin: Machtlos in der Menge

Vor 70 Jahren brannten auf dem Opernplatz die Bücher. Volkmar Zühlsdorff und Elfriede Brüning wurden Zeugen der Aktion

Volkmar Zühlsdorff war 20 Jahre alt, als er Zeuge der Bücherverbrennung wurde. Der Jura-Student der Friedrich-Wilhelms-Universität kam am Abend des 10. Mai 1933 aus der Staatsbibliothek Unter den Linden und geriet in eine Menschenmenge, die sich zum Opernplatz drängte. Zühlsdorff sah, wie Mitglieder der nationalsozialistischen Studentenschaft einen Holzstoß errichteten, Lautsprecher und Scheinwerfer installierten, um ihren „ungeheuren Theaterskandal zu inszenieren“.

Gegen 23 Uhr marschierten BDM-Mädchen, SA-Männer und Studenten auf, ihnen folgten mit Büchern beladene Lastwagen, berichtet Zühlsdorff. „Gegen Klassenkampf und Materialismus, für die Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky“: Die „Feuersprüche“, die die Studenten aufsagten, klingen Zühlsdorff noch heute in den Ohren. Er war – und ist bis heute – Mitglied im sozialdemokratischen „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Marx las er „selbstverständlich aus wissenschaftlichem Interesse“. Verbrannt wurden auch die Werke seiner Lieblingsautoren Heinrich Mann und Erich Kästner: „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall. Für Zucht und Sitte in Familie und Staat.“

Die Verbrennung von Büchern verfemter Autoren sollte der Höhepunkt einer Aktionswoche der NS-Studentenschaft „Wider den undeutschen Geist“ sein. „Diese üble Bande“, erinnert sich der 90-jährige Zühlsdorff noch heute mit Abscheu, „war für uns doch das Undeutscheste, was wir uns vorstellen konnten.“ Für ihn war Deutschland eines der geistigen Zentren Europas, das Land Schillers, Goethes und Kants. „Wir haben uns geniert für diese Banditen“, sagt Zühlsdorff.

In der Menschenmenge vor dem Opernplatz empfand der junge Student „Verzweiflung – und dann einen ungeheuren Zorn“: Weil er nicht eingreifen konnte und weil er sich so allein fühlte unter den Schaulustigen. „Man wäre ja totgeschlagen worden von der SA“, sagt Zühlsdorff. Nur einen kleinen Moment von Komplizenschaft mit den Berlinern, die mit ihm vor der Uni standen, hat er erlebt. Gegen 22 Uhr ging ein Platzregen nieder und einer sagte: „Na, da wird ihnen ihr Scheiterhaufen ersaufen“, andere stimmten mit „heimlichem schadenfrohen Kichern“ zu.

Dabei gab es auch andere Widerständler in der Menge. Eine davon war Elfriede Brüning, eine 22-jährige Jungautorin, die im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller engagiert war. Sie kam zum Opernplatz, um andere Mitglieder des im Untergrund arbeitenden Bundes zu treffen. Brüning sah, wie die Werke ihres Vorbildes Anna Seghers verbrannt wurden. „Nach dem Reichstagsbrand und den anschließenden Verhaftungen“, erinnert sich die heute 92-jährige Brüning, „schien fast keine Steigerung möglich“. Kurz nach der Bücherverbrennung kam die SA auch in die kleine Leihbibliothek ihrer Mutter und „säuberte“ dort die Regale. Elfriede Brüning wurde 1935 verhaftet, nachdem sie Berichte aus Nazi- Deutschland ins Ausland geschmuggelt hatte. Nach einem Jahr kam sie frei – und heiratete den Lektor eines ihrer frühen Liebesromane. In Ost-Berlin wurde sie eine bekannte antifaschistische Autorin.

Volkmar Zühlsdorff emigrierte vier Tage nach der Bücherverbrennung nach Österreich und später in die USA. Er kehrte erst nach Kriegsende nach Deutschland zurück. (Siehe auch Seite 25)

Elfriede Brüning liest am morgigen Sonnabend um 10 Uhr im Opernpalais (Unter den Linden 5) aus ihren Erinnerungen.

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