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Berlin: Margarete Gertrud Samletzky (Geb. 1911)

Ein Leben – war plötzlich da und soll jetzt wieder weg, fünf Euro, wer es haben will.

Der Koffer ist alt. Aus braunem Leder, das Innenfutter grün. Feine Nähte, goldene Messingbeschläge, ein wenig Patina. In dem Koffer sind Briefe, Programmhefte, Fotos, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitte. Zwei Tagebücher, beschrieben von der ersten bis zur letzten Seite. Papier, Bilder und Worte ergeben aneinandergelegt ein Puzzle, eine Collage: das Leben einer Tänzerin. Fotografiert im Foyer vom Theater des Westens, auf der Spitze stehend, ganz leicht. Sehr jung, sehr schön, ein ins Überirdische geschminktes Gesicht und auffallend schmale Hände, lange, elfenhafte Finger.

1926. In der Pause der Varietévorstellung gibt es Hummer mit Trüffelbutter. Tatar, Edelfasan, Ananaskraut. Das Programmheft ist im Dunkeln lesbar, man muss es gegen die helle Bühne halten, am Flügel heute Abend Lili Stone und nach dem Theater in den Kaiserkeller. Margarete ist fünfzehn Jahre alt. Sie tanzt im Admiralspalast, im Friedrichstadtpalast, im Flora-Theater. Heute ist der erste Tag im Tanzlokal Bonbonniere, damit beginnt das Tagebuch. Die Schrift ist kindlich. Rechnungen für Taft und Talkum zwischen den Seiten, Bestellungen für Kostüme: 1 Holländerin, Haube, Taille aus blauem Sammet. 1 Pierrot, Trichter aus weißer Seide, 5 schwarze Pompons.

Vorhang auf – die Gefilde der Seligen. Reisen nach Italien, Frankreich, Skandinavien. Zehn, zwanzig Jahre lang. Aus Margarete wird erst Marga, dann Valivia. Die Schrift im Tagebuch wird erwachsen, größer. Und dann wieder kleiner und kleiner. Am Ende winzig, Buchstaben wie Ameisen, kaum lesbar, eine Schrift, die sich in Spiralen in sich selbst zurückzieht wie in das Gehäuse einer Schnecke hinein. Die Musik ist verstummt. Das Licht ist aus, dann geht der Vorhang zu.

Bin keine Tänzerin mehr. In Berlin ist alles Ruine. Schutt und Asche, der Admiralspalast steht nicht mehr. Aber da waren wir doch gewesen? Und alle leben nicht mehr.

2006. Der Koffer mit den Erinnerungen an ein Leben der berühmten, weit gereisten Valivia, Tänzerin russischer Schule, Spezialität Spitzentanz, steht auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni. Strandgut. Eine Habseligkeit. Wie er da hingekommen ist, weiß niemand mehr. War eben plötzlich da und soll jetzt wieder weg, fünf Euro, wer ihn haben will. Wer will das haben? Aus den Papieren steigt ein bestimmter Geruch, etwas Modriges, Staubiges, Klammes. Talkum. Vergangenheit. Ein Nachlass.

Valivia alias Marga scheint gestorben zu sein. Aber Margarete ist nicht gestorben. Sie lebt in der Schlangenbader Straße in einer Einzimmerwohnung – alleine. Keine Familie, kein Mann, keine Kinder, keine Enkelkinder, kein Tier. Zwei Sessel, kein Fernseher, ein Bett. Und alle Zeit der Welt. Für Gedanken – über Schlangen und Bäder zum Beispiel. Über Nerven und Systeme, Nervenstraßen, summende Erinnerungen. Zwischenwelten. Die Wohnung an manchen Tagen eingehüllt in grauen Nebel. Kaum Kontakt zur Außenwelt. Manchmal der Sozialdienst. Fahrbarer Mittagstisch. Ab und zu die Krankenschwester. Einmal klingelt das Telefon, ein Geräusch, über das man zu Tode erschrecken kann. Am anderen Ende der Leitung ist jemand dran, der für einen Euro einen Koffer gekauft hat auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni und wissen will, ob sie tatsächlich jene Valivia sei, ob ihr das etwas sagen würde, das Theater des Westens, das klassische Ballett der russischen Schule.

Was sind das für Fragen? Und wie ist das zu verstehen? Woher soll sie wissen, wie dieser Koffer mit ihren Tagebüchern auf die Straße des 17. Juni gekommen ist. Was für ein Koffer überhaupt? Und was für Fotos, es ist zu lange her, sie will auch nichts mehr davon wissen. Vielleicht hat sie diesen Anruf nur geträumt, sie träumt ja ständig, sie träumt davon, dass sie sich im Schlaf das Rückgrat bricht, und sie träumt, dass sie stirbt, sie hält es für ein großes schlimmes Unglück, weiterzuleben, noch immer am Leben zu sein.

Einmal noch bekommt sie Besuch. Macht die Tür auf und legt ihre auffallend schmale Hand in die warme Hand eines Jungen hinein. Sie sitzt auf dem einen Sessel, er sitzt auf dem anderen, sie lächelt, er lächelt auch. Zwischen ihnen steht der Koffer, er macht den Koffer auf, sie schlägt den Koffer zu.

Ob das ihr Koffer sei? Ja. Und nein. Ob sie noch einmal zum Admiralspalast wolle? In die Friedrichstraße? Über die Spree? Er hat die Stelle gefunden, an der sie fotografiert worden ist vor achtzig Jahren, ein Mädchen auf Spitze im Foyer vom Theater des Westens an der zweiten Säule von rechts aus rosafarbenem Marmor, das Foyer sieht heute noch aus wie damals, kein Sprung in der Zeit. Sie könnte dort noch einmal stehen. Er würde sie hinfahren. Will sie?

Nein, sie will nicht. Sie will ganz sicher nicht. Sie will den Admiralspalast, das Theater des Westens, die Friedrichstraße nicht mehr sehen. Ob sie ihm stattdessen nicht etwas erzählen könne? Ja, aber nicht das, was er hören wolle. Sie ist keine Zeitzeugin, sie ist ein Orakel. Sie sagt, mein Kopf ist wie eine leere Trommel. Sie sagt, ich mag Kellergeruch. Den Geruch von Kellern, den mag ich wirklich sehr. Mehr sagt sie nicht.

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, Valivia hat diesen Satz von Jean Paul in ihr Tagebuch geschrieben, auf die letzte Seite, ihre Schrift dafür noch einmal lesbar werden lassen. Margarete muss die Erinnerung am Ende anders empfunden haben.

Der Junge kommt zu ihrer Beerdigung, er ist der Einzige, der hinter ihrer Urne geht. Er hat, per Zufall, einen alten Koffer geborgen. Taft und Talkum. Musik. 1 Pierrot, Trichter aus Seide, 5 schwarze Pompons. Dora Winkelmann

Dora Winkelmann

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