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Berlin: Massentanzen

Vor gut hundert Jahren war so genannte „Landflucht“ noch ein einschlägiges demografisches Phänomen. Das scheint heute verschwunden und von wenigstens saisonal bedingter „Stadtflucht“ ersetzt worden zu sein.

Vor gut hundert Jahren war so genannte „Landflucht“ noch ein einschlägiges demografisches Phänomen. Das scheint heute verschwunden und von wenigstens saisonal bedingter „Stadtflucht“ ersetzt worden zu sein. In Berlin gibt es ja auch einiges, vor dem man von Zeit zur Zeit flüchten möchte: Ich zum Beispiel bin jahrelang vor der Loveparade geflüchtet – in kleinere, Loveparade-lose Städte. Aus alter Gewohnheit habe ich das in diesem Jahr wieder getan, obwohl es überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Die Loveparade-Soli-Demo auf dem Ku’damm zog ja kaum einen Touristen in die Stadt.

Meine Kölner Freunde, die wiederum jedes Jahr vor dem Karneval zu mir nach Berlin flüchten, haben sich jedenfalls über meinen Besuch gefreut. Wobei ich diesmal vom Regen in die Traufe gekommen bin: In Köln wurde, wie es anscheinend in so vielen deutschen Städten jetzt üblich ist, ein Lichterfest gefeiert. Komplett Köln samt Großraumbevölkerung war auf den Beinen, und in der eh so engen Stadt bedeutet das nichts Gutes.

Mir scheint, als ob die Loveparade im Sinne der Entropie nun von vielen, eigentlich nur unwesentlich kleineren Events abgelöst worden ist. In Berlin vergeht ja kaum mehr ein Sommerwochenende ohne Straßenfest, und die Besucherzahlen beim Karneval der Kulturen, der Fête de la Musique oder dem CSD stehen der Loveparade des letzten Jahres in nichts mehr nach. Massenfeste sind zwar eine historische Konstante, aber durch die Loveparade haben sie ihr Gesicht verändert. Deutsche Städter hängen jetzt nicht nur massenweise an City-Sandstränden herum, sondern tanzen auf offener Straße – wie früher nur in Brasilien.

Am kommenden Wochenende kann man seine gattungswesenhaften Bedürfnisse, zum einen aus der Stadt zu flüchten und zum anderen in einer Menschenmasse aufgehoben zu sein, gut unter Dach und Fach bringen: Das „Melt!“-Festival auf dem stillgelegten Tagebaugelände in Sachsen-Anhalt ist nur knapp eineinhalb Stunden Autofahrt von Berlin entfernt und bietet für Elektronikmusik-Liebhaber ein musikalisches Aufgebot zum tot umfallen. Über sechzig Acts und DJs beschallen auf vier Bühnen die nicht nur für Romantiker ästhetisch reizvolle Schwerindustrie-Anlage. Für mich wären The Streets, Tortoise, Mouse on Mars, Peaches und International Pony absolut ein Grund, dorthin zu fahren – wenn mir Massenaufläufe, und damit Festivals nicht so ein Gräuel wären. Und das Wetter natürlich, das spielt auch eine Rolle bei der Entscheidung, an diesem Wochenende lieber in meinen kleinen, eher niedrig frequentierten Lieblingsclub um die Ecke zu gehen. Wo der genau ist, verrate ich aber nicht.

Melt! Open Air, 16. Juli ab 15 Uhr, Ferropolisstraße 1, Gräfenhainichen. Vollständiges Programm unter: www.meltfestival.de. Nächste Woche stellt Frank Jansen hier eine Berliner Bar vor.

Christine Lang

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