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Wieland Reissbrodt und seine Familie, die er für die Mauerfall-Ausgabe interviewt hat.

© Alice Epp

Wieland Reissbrodt, 6/1, Heinrich-Schliemann-Gymnasium: Mauerfall statt Russischklausur

Es sollte ein ganz besonderer Tag werden - für Wielands Mutter, Berlin und die ganze Welt.

Meine Mutter berichtete mir: Ich war Studentin in Ostberlin. Am 10. November sollten wir Studenten eine Russisch-Klausur schreiben. Wir lernten am Abend davor und gingen nicht so spät ins Bett. Mitten in der Nacht hämmerte es an die Tür vom Studentenwohnheim. Meine Freundin hatte Angst und wir machten die Tür nicht auf. Am nächsten Morgen mussten wir um 6.00 Uhr aufstehen. Gleich auf dem Flur des Wohnheims erfuhren wir, wer geklopft hatte: Andere Studenten, die uns mit zur Mauer nehmen wollten, denn es war in aller Munde: Die Mauer ist offen! So begann dieser Freitag, der 10. November 89 für mich. Alle Mitglieder meiner Seminargruppe schnappten sich ihre Reisetaschen, denn es war Freitag  und damit Rückreisetag. Viele wollten zu ihren Eltern nach Hause fahren. Wir frühstückten im Gehen und fuhren zur Humboldt-Uni. In der S-Bahn bereits beschlossen wir, heute keine Russischklausur zu schreiben. Gemeinsam rannten wir die Treppe zum Zimmerchen unserer Professorin hoch. Dort sagten wir atemlos zu ihr, dass wir jetzt erst einmal in den Westen fahren würden und entschuldigten unser Fehlen. Unsere Dozentin weinte und sagte: "Natürlich! Ich muss hier noch einiges regeln, dann gehe ich auch..." Wir 7 Mitglieder unserer Seminargruppe liefen zum Grenzübergang Friedrichstraße.

Wielands Mutter konnte es kaum glauben: ohne Ausweis oder Stempel konnte sie nach "drüben".

© Privat

Dort war alles voller Menschen. Wir stellten uns in einer endlos langen Schlange an. Von vorn breitete sich die Nachricht aus, dass es an diesem Übergang nicht gelänge, einen Stempel zu erhalten und alles so verstopft wäre, dass wir zum Grenzübergang Sonnenallee fahren sollten. Unser Kommilitone hatte seinen weißen Trabi ganz in der Nähe geparkt und rief: "Kommt alle mit, wir passen da schon alle rein!" Er stopfte unsere 7 Reisetaschen in den Kofferraum und band fix die Klappe mit einem Riemen zu. Wir anderen stapelten uns in das kleine Auto und laut knatternd tuckelten wir durch die Stadt zur Sonnenallee. Dort angekommen, gelangten wir wieder in eine Menschenschlange. Auch hier schoben sich die Leute aufgeregt in den Westen. Plötzlich war ich "drüben", ohne einen Ausweis oder Stempel vorzeigen zu müssen. Überall waren Kameraleute und filmten uns, eine Studienfreundin wurde interviewt, fremde Menschen umarmten uns und wir bekamen Sarotti-Schokolade geschenkt. Zwei von uns hatten gleich einen Plan und stürzten sich ins Getümmel.Wir anderen überlegten kurz, was wir tun sollten, da rief ich: "Kommt alle mit zu meiner Oma!" Die Idee fanden die anderen gut, zumal wir unsere schweren Taschen mit uns herumschleppten. Wir fragten uns "durch". Die Westberliner waren so hilfsbereit, so gerührt und alle lachten und jubelten. Am U-Bahnhof Alt-Mariendorf nahm uns ein Taxifahrer kostenlos mit und brachte uns vor die Haustür meiner Oma. Westgeld hatten wir ja auch keines. Als meine damals fast 80jährige Oma aus der Tür kam, rief sie: Na,da seid ihr ja endlich! Ich habe schon gewartet! Nach einer sehr herzlichen Begrüßung stießen wir gemeinsam mit Kräuterlikör auf den Mauerfall an. Meine Studienfreunde ließen ihre Reisetaschen bei meiner Oma und fuhren los ins unbekannte Westberlin.

Ich konnte kaum Luft holen, da kam plötzlich meine Schwester zusammen mit meiner Tante durch die Haustür meiner Oma...

Da spürte ich und verstand langsam, dass dieser Tag ein ganz besonderer Tag war. Für mich, meine Familie, Berlin und die ganze Welt.

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