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Mauerfall: Vereint durch dick und dünn

Die Berliner in Ost und West sind sich seit 1989 erstaunlich ähnlich geworden – vor allem in der Pflege der wechselseitigen Vorurteile. Forscher vermuten, dass die Klischees der Selbstbestätigung dienen. Aber eines Tages, sagen sie, könnte Berlin echte Weltbürger hervorbringen.

Die ersten Wendekinder studieren schon. Lichtenberger teilen den Strand von Usedom mit Steglitzern. Marzahner können längst Kiwis von Khakis unterscheiden, Spandauer warten am Grünen Pfeil nicht mehr aufs Ampellicht. Seit 20 Jahren dürfen wir zueinander und miteinander. Ist Berlin in dieser Zeit Deutschland als Konzentrat geworden oder doch eher ein Sonderling geblieben? Sind wir uns hüben und drüben zum Verwechseln ähnlich? Können wir uns noch als Ossis und Wessis unterscheiden? Wollen wir überhaupt?

Das Amt für Statistik, einst erste Adresse für solche Fragen, will nicht. Die 2001 gebildeten Mischbezirke Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte vereiteln die meisten Ost-West- Vergleiche. Nur Wahlergebnisse und Ausländerquoten werden noch getrennt erfasst. Letztere sind seit 1991 von 14,6 auf 18,2 Prozent (West) und von 2,0 auf 6,4 Prozent (Ost) gestiegen. Keine Einheit also in diesem Punkt. Auch bei der Wahlbeteiligung liegt der Osten stets ein paar Prozente zurück. Ferner ist seit 1991 ein Schwund von knapp 75 000 West-Berlinern auf nunmehr 2,16 Millionen Menschen festzustellen. Die östlichen Bezirke haben unterm Strich nur 1700 Bewohner eingebüßt und stellen jetzt 1,28 Millionen Berliner.

Die markanten statistischen Grenzen verlaufen nicht mehr entlang der Mauer, sondern eher ringförmig: Relativ wohlhabende Außenbezirke umschließen eine City, in der die Durchschnittsmenschen weniger verdienen, mehr rauchen und kleinere Wohnungen haben.

Aber was sind schon Durchschnittsmenschen gegen die Besucherinnen des Internet-Forums „Go Feminin“. Dort attestiert eine West-Berlinerin ihren Ost- Artgenossinnen einen Hang zu sogenannten Arschgeweihen und Piercings – um prompt den Widerspruch zu ernten, dass man selbige ebenso im Kadewe wie im Potsdamer Stern-Center antreffe. Tatsächlich: Wem ist seine Herkunft heutzutage noch anzusehen, wenn man Biotope wie den CDU-Ortsverein Dahlem und die Sektion Alt-Hohenschönhausen der Linkspartei einmal ausnimmt?

Könnte sein, dass der Ost-Berliner im Durchschnitt etwas zufriedener in die Welt guckt: In einer Studie für die Wohnungsgesellschaft Degewo Anfang des Jahres befanden 72 Prozent der Befragten im Ostteil die Veränderung der Stadt positiv. Im Westen war die Mehrheit mit 61 Prozent dünner. Die mit ihrem Kiez zufriedensten Berliner wohnen laut der Befragung übrigens in Pankow, Steglitz- Zehlendorf und Treptow-Köpenick. Am unzufriedensten sind die Neuköllner.

Die Leute in den West-Bezirken sind zwar nicht glücklicher, aber wohl ausgeschlafener. Sie stehen nämlich noch immer fast eine halbe Stunde später auf, wie die BVG beobachtet: Wenn morgens gegen acht am Zoo das größte Gedränge beginnt, lässt es am Alex schon wieder nach.

50 Prozent der West-Befragten erklärten in der Degewo-Studie, sie würden nicht in den Osten ziehen. Umgekehrt sagten 48 Prozent „Nein“. Bei Frauen und Älteren war die Ablehnung am größten.

Die Mauer in den Köpfen ruht zwar auf keinem Fundament aus Fakten, aber sie hält sich doch unerschütterlich, wie Klaus Schroeder bestätigt. Der Politikprofessor, der an der Freien Universität den Forschungsverbund SED-Staat leitet, sagt: „Bei allen Missverständnissen und Vorurteilen stehen Ost- und West-Berlin an vorderster Front.“ Erst kürzlich habe in einer Umfrage unter Schülern jeder dritte West-Berliner Junge erklärt, er wolle mit der anderen Seite nichts zu tun haben. „Die Gräben sind tiefer als noch vor zehn Jahren“, sagt Schroeder und zählt auf: Ostler halten Westler für arrogant, geldgierig und oberflächlich. Umgekehrt laute die Liste: „Unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und bequem.“ In Berlin könne man dank der Nähe die Vorurteile umso leichter pflegen, „obwohl die angegebenen Lebensziele fast identisch sind“. Und wer wisse schon, dass der Einkommensunterschied in Deutschland zwischen Ost und West 15 Prozent betrage, aber zwischen Nord und Süd über 100 Prozent? In Berlin mit dem durchweg niedrigen Niveau würden ersatzweise die höheren West-Renten und Pensionen ins Feld geführt.

Aus Sicht des Kultursoziologen Frithjof Hager von der FU hat in Berlin ein uraltes Phänomen die Zeiten überdauert: Der Westen sei bürgerlicher geprägt, der Osten proletarischer. Ein Erbe aus der Zeit der Industrialisierung, das schlicht der nordeuropäischen Hauptwindrichtung zu verdanken sei: Weil der Wind meist aus Westen weht, ist die Luft dort besser. Was nicht heißt, dass sie den Kopf frei macht. „Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob in Zehlendorf alle wissen, dass die Mauer gefallen ist“, sagt Hager. Als Zehlendorfer darf er das. Was er meint, ist eine mentale Bequemlichkeit, aus der heraus die eigenen Vorurteile lieber nicht hinterfragt werden. Wer beschädigt schon freiwillig sein Weltbild – zumal, wenn es auch auf der Annahme beruht, dass man es ohnehin besser weiß als der gemeine Ossi? Aber auch der kommt bei Hager nicht gut weg: Die mangels der 68er-Revolte da weggefallene geistige Modernisierung blockiere die dortigen Berliner ebenso wie die staatliche Definition von richtig und falsch in der DDR. Schroeder bestätigt diesen Befund: „Die Ostdeutschen überbewerten sich. Westdeutsche gehen viel selbstkritischer mit sich um.“

Hager erwartet, dass das Ost-West- Schema angesichts von immer mehr Berlinern aus 180 Nationen verblassen und einem weltstädtischen Selbstverständnis weichen wird. Berlin sei vielleicht der ideale Ort, um Weltbürger hervorzubringen. Sie müssen es nur noch merken.

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