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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Virtuelle Nähe ohne Umgangsformen

Unsere Kolumnistin musste in der vergangenen Woche einige unliebsame neue Internet-Bekanntschaften machen und fragt sich, ob die Spielregeln des Miteinanders im Netz ausreichen. Anonym Hass zu verbreiten ist einfach - und schäbig.

Am Wochenende habe ich Weihnachtspost bekommen. So richtig mit Briefmarke, im Umschlag, handschriftlich mit Tinte geschrieben. Völlig selbstverständlich habe ich Reliquien der Korrespondenz wie Briefpapier und Füllfederhalter gegen Formatvorlagen im Textverarbeitungsprogramm, eine eingescannte Unterschrift und die Nutzung von E-Mails eingetauscht. Vom BTX der Deutschen Bundespost bis zu VDSL dauerte es gerade mal 20 Jahre. In meinem Smart-Phone befindet sich mehr Rechnerleistung als in der Apollo-Raumkapsel. So ziemlich alle Lebensbereiche hat die digitale Revolution fest im Griff. Drei von fünf Paaren lernen sich bereits im Internet kennen, denn für jeden Einzelaspekt einer Beziehung finden sich dort Gefährten. Das Internet ist, um einen 80-jährigen Leser zu zitieren, eine epochale Erfindung. Wissenschaftler sagen, es sei die größte Veränderung des Informationswesens seit der Erfindung des Buchdrucks.

Klar, die Korrespondenz unter Kollegen, Auftraggebern und Institutionen ist schneller geworden. Auch kann man unter Freunden schnell Dinge klären, wenn man einmal keine Zeit für ein Treffen hat. Aber reichen die Spielregeln des Miteinanders im weltweiten Netz aus? Das Internet kann auch etwas hervorbringen, worauf man als Konsument gerne verzichten würde. Mich beschäftigt diese Frage, weil ich diese Woche neben der normalen Mailflut ein Reihe von neuen angetragenen Bekanntschaften machen musste. Zugegeben, derartige Phänomene gab es auch schon in Zeiten der Wählscheibe. Auch früher galt schon: Eine Intrige kostet nur eine Telefoneinheit. Das war vor der Flatrate.

Das Internet ist eine gigantische, technische Plattform, die jede Botschaft in gleicher Geschwindigkeit transportiert. Sie bietet darüber hinaus noch einen entscheidenden Nutzen für den Absender: Es ermöglicht ihm vordergründige Anonymität. Man erzeugt virtuelle Nähe, bei persönlicher Distanz. Denn jeder, der wie ich diese Möglichkeiten nutzt, ist auch greifbar, für alles und jeden.

Das ruft wohl auch jene auf den Plan, die sich an der eigenen Tabuverletzung ergötzen, abseits jedweder Anstands- und Umgangsregeln. Nicht, dass ich da pingelig wäre. Aber mit anonymisierten E-Mail-Adressen Ergüsse seiner dumpfen Stumpfheit entleeren zu können und unbeobachtet seine Aggression gegen jemanden zu richten, hat etwas vom vermummten Hooligan im Fußballstadion, von enthemmten Sex-Touristen in Bangkok oder von Gaffern auf Autobahnen, die schwerste Unfälle als Sensation mitnehmen und durch Rücksichtslosigkeit andere gefährden.

Es scheint, dass diese Gruppe offenbar nicht ohne Anleitung agieren kann. Sie orientiert sich an Internetplattformen, die hart an der Grenze zur Meinungsfreiheit segelnd wissen, wie man diese amorphe Einheit instrumentalisiert und treten so als dreifache Trittbrettfahrer auf. Zunächst werden sie mit abstrusen Behauptungen mobilisiert, dann bekommen sie Textbausteine, die sie voneinander mitsamt Schreibfehlern übernehmen, und erfreuen sich schließlich untereinander im rechtsstaatlich tolerierten Bereich, wohlwissend, dass die Adressaten Opfer von Gewalt werden können. Das steigert ihren Genuss allerdings noch einmal. Der Duden kennt dafür ein treffendes Wort: schäbig.

Ein Freund meinte lakonisch, dass man Anerkennung paradoxerweise immer von der falschen Seite bekäme. Er wird mir einen Füllfederhalter schenken, denn Respekt und Kritik setzen Wertschätzung voraus, sonst endet alles nur in kulturloser Diffamierung. Oder wie mein Vater sagen würde: „Dil ederse istirahat, kalp eder rahat“ – macht die Zunge erst einmal Pause, kann sich das Herz ausruhen.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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