zum Hauptinhalt
Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Mein Berlin": Mein Glaube an den Staat ist erschüttert

Lieber würde unsere Kolumnistin lustige Geschichten über Klischees schreiben. Doch ihr ist der Humor vergangen. Wie weit ist der Weg vom Spitznamen "Döner-Tasche" zu den "Döner-Morden"?

Mein erster deutscher Freund gab mir einen niedlichen Kosenamen: Er nannte mich „meine kleine Döner-Tasche“. Wenn wir früher in der großen Pause über den Schulhof rannten, riefen mir meine deutschen Klassenkameraden „Kümmeltürke“ und „Knoblauchfresser“ hinterher. Die italienische Nachbarstochter nannten sie „Spaghettifresser“. Später, an der Uni, saßen wir einmal mit Kommilitonen in der Cafeteria und einer sagte: „Diese Türkentussis sind echt scharf.“

Seit einigen Tagen denke ich über diese Wörter nach. Normalerweise neige ich nicht zu Pathos. Lieber schreibe ich lustige Kolumnen über Klischees. Doch mir ist der Humor vergangen. In diesen Tagen scheinen genau diese Klischees auf eine feindliche Weise übermächtig zu werden. Ich würde Ihnen gerne für einen Tag meine Augen leihen, um mit ihnen durch Berlin zu laufen. Was würden Sie sehen? Einen Blumenladen, eine Änderungsschneiderei, einen Lebensmittelladen, einen Döner-Imbiss, ein Internet-Café. Sie würden sie als potenzielle Tatorte erkennen, in denen man ermordet werden kann, einfach so.

Natürlich finden wir die Ereignisse alle unfassbar schrecklich. Dennoch frage ich mich, ob wir nicht alle ein Glied in dieser Kette sind, in der es mit negativen Zuschreibungen beginnt, über Stigmatisierung in Ausgrenzung mündet und im Mord von zehn Menschen endet? Wie weit ist der Weg von der Döner-Tasche bis zum Döner-Mord? Der Begriff ist im Ansatz so geschickt gewählt, dass er wie eine interne Angelegenheit unter Türken wirkt. Man wird ja auch nicht müde, über Religion und Ethnie die Linie zwischen denen und uns zu ziehen.

Unweigerlich hat es seinen Reiz, denn man kann sich distanzieren, auf Abstand halten und behält somit die Deutungshoheit über die Geschehnisse, ohne sich zu sehr auf sie einlassen zu müssen.

Dieses Muster ging diesmal allerdings komplett schief. Aber um an unsere Vernunft appellieren zu können, ist mein Glaube an den Staat zu sehr erschüttert worden. Wann begreift unsere Gesellschaft, dass Menschen, die hier leben und sich hier eine Zukunft aufbauen wollen, Teil unseres Landes sind? Mit Rechten und Pflichten. Die Blutspur, die über zehn Jahre durch Deutschland gezogen wurde, ist weder konsequent verfolgt noch in den richtigen Zusammenhang gestellt worden. Ein Revolutionär hat einmal gesagt, dass man den Feind dort bekämpfen muss, wo er steht, und nicht dort, wo man ihn gerne hätte. Da schützen Organisationen die Verfassung, indem sie jene finanzieren, die sie mit Füßen treten. Da wird bei Mord an Wehrlosen das Motiv Rassismus ignoriert, und die Behörden agieren zwischen aktiver Ignoranz und Strafvereitelung im Amt. Und nun? Ein neues NPD-Verbotsverfahren und ein Zentralregister für Neonazis? Haben wir nicht eher zu viele Sicherheitsgesetze als zu wenige, und hat das einem der Opfer etwas genutzt? Und wenn die NPD endlich verboten ist, lehnen wir uns dann alle zufrieden und sicher zurück?

Rassismus beginnt in unseren Köpfen, in unserem Verhalten, in unseren gepflegten Vorurteilen und in unserer Haltung, die wir an den Tag legen. In Sachsen werden Demonstranten gegen Nazis stärker beobachtet als Nazis. In Berlin werden brennende Autos als neue Welle des Linksterrorismus hochstilisiert. Wer Bundesmittel in der Aufklärung gegen die Gefahren des Neofaschismus beantragt, muss einen Gesinnungstest über sich ergehen lassen, während V-Leute sechsstellige Beträge für ihre unbrauchbaren Infos kassieren.

Und da ist noch eine Frage: Wie viele Morde liegen falsch etikettiert in den Ablagen der Behörden? Oder wie mein Vater sagen würde: „Bir dogru saat, yetmis sene namazdan degerli“ – eine Stunde Gerechtigkeit ist mehr wert als siebzig Jahre Gebet.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag im Tagesspiegel.

Zur Startseite