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Berlin: „Mein Vater sagt: Ich bringe dich um“

Sevda ist erst zwanzig, sie ist ganz allein in Berlin untergetaucht. Die Deutschtürkin floh vor Zwangsehe und Gewalt in die Anonymität

Auf den ersten Blick wirkt Sevda Öger (Name geändert) wie jede andere junge Frau: Sie spricht selbstbewusst und lebendig, ist modern gekleidet. Niemals würde man ahnen, was die Deutschtürkin hinter sich hat. Sie ist vor Todesdrohungen ihres Vaters in die Region Berlin-Brandenburg geflohen und hier untergetaucht. Im Beisein ihrer Betreuerinnen von Kriseneinrichtungen in Berlin vertraute sie ihre Erlebnisse dieser Zeitung an.

„Nach meiner Flucht habe ich einmal mit meinem Vater telefoniert. Das Einzige, was er gesagt hat, war: Wenn ich dich finde, bringe ich dich um. Ich weiß, er macht das, ich kenne ihn. Ich weiß, dass er schon lange eine Waffe hat, und ich weiß, wo er sie versteckt. Mein Vater hat mir fast alle meiner 20 jungen Jahre zur Hölle gemacht, doch ich muss immer noch sagen, dass ich meinen Papa liebe.

Ich zucke oft zusammen, wenn ich draußen unterwegs bin, in die Schule zum Beispiel. Ich habe so einen Scannerblick, gucke mich ständig um und denke: Das könnte er sein, jetzt hat er dich! Da würde ich sterben vor Angst. Ich höre auch manchmal seine Stimme und antworte plötzlich laut, als ob er da wäre. Wenn andere das mitbekommen, denken die, ich habe sie nicht alle.

Aber so was bleibt nicht aus, wenn m an untertaucht. Ich habe meine Familie verlassen müssen, mein bisheriges Leben begraben. Mein Papa wollte mich am liebsten schon als Kind zwangsverheiraten und in die Türkei schicken. Wenn ich nicht abgehauen wäre, hätte er das jetzt gemacht. Ich bin vor zwei Jahren nach Berlin geflohen, heimlich nach dem Training, nur in T-Shirt und Jeans. Wenn ich etwas gepackt hätte, wäre es ja aufgefallen. Jetzt kann ich langsam darüber reden, weil mir die Mitarbeiterinnen von der Kriseneinrichtung Papatya und auch die Frauen vom Verein Hatun und Can geholfen haben. Ich fühle mich auch sicherer, weil sie bei unserem Gespräch mit dabei sind.

Für manche mag unfassbar sein, was ich erzähle. Aber ob sie es glauben oder nicht, es ist meine Lebensgeschichte. Und ich möchte, dass die Welt weiß, was Frauen heute noch durchmachen müssen. Ich weiß von welchen aus Berlin, die zur Strafe mit dem Kopf nach unten im Keller aufgehängt wurden.

Ich komme aus Süddeutschland. Zu Hause hatten wir eine tolle Fassade aufgebaut. Alles wunderschön, alles rosarot. Mein Vater hat darauf geachtet, dass die Ehre, das Gesicht der Familie nach außen gewahrt bleibt. Mein Vater ist 46 Jahre alt, und ich habe vier Geschwister. Ich bin in der Türkei geboren und ich wurde mit der Geburt einem Mann versprochen. Als meine Eltern nach Deutschland gingen, war ich fünf Jahre alt. Ach ich acht war, hat es bei mir Klick gemacht: Ständig hat mein Papa zu mir gesagt, du heiratest bald, dein Mann in der Türkei wartet schon, der liebt dich. Aber ich war doch noch ein Kind, und ich hatte den noch nie gesehen. Ich bin damit nicht klargekommen. Mit 14 wollte er mich rüberschicken, aber da hatte ich insofern Glück, als dass mein Vater bei der Einreise falsche Angaben zu Name und Herkunft gemacht hat, was polizeibekannt ist, deswegen hätte ich Deutschland legal nicht verlassen dürfen. Er sagte, er plane da eine Art Lkw-Transport. Eines Tages, als ich aus der Schule kam, ist er wieder drauf rumgeritten, ich sollte schon mal mit meiner Mutter die Aussteuer kaufen. Ich habe einen Aufstand gemacht: Ich bin noch jung, und ich möchte das nicht!

Meine Mutter konnte mir nicht helfen, sie konnte noch nie was gegen meinen Papa ausrichten. Sie hat sehr unter ihm gelitten. Wenn sie mal Kontra gab, hat sie gleich Schläge kassiert. Sie durfte nicht aus dem Haus gehen, selbst nicht zu Treffen mit anderen Frauen. Wenn sie heimlich draußen im Treppenhaus geweint hat, blieb ich bei ihr, ich wollte sie nicht allein lassen. Meine Mutter ist mir das Liebste, was es gibt, es ist schrecklich, sie nicht mehr sehen zu können. Ich bin auch geschlagen worden, mit allem, was gerade in der Nähe war, einem Gürtel oder so. Einmal hat mein Papa einen Aschenbecher nach mir geworfen.

In der Schule, damals ging ich in die 8. Klasse einer Realschule, war ich nur noch körperlich anwesend. In den Leistungen bin ich aber nicht abgesackt, auch in Deutsch war ich schon immer gut. Aber ich habe kein Essen mehr runterbekommen, 47 Kilo hatte ich noch auf den Rippen. Das war mir einfach alles zu viel, ich habe die Schule abgebrochen. Mein Vater hat uns Kindern Druck gemacht, dass wir das nur nach außen keinem erzählen sollen. Aber zu uns hat er gesagt, er findet sowieso, dass Mädchen keine Bildung brauchen. Dabei bin ich doch nicht auf den Kopf gefallen! Nach zwei Monaten hat die Schule nicht mehr bei uns zu Hause angerufen, wo ich denn blieb. Ich habe dann einen Job als Fabrikarbeiterin gesucht und das Geld gern zu Hause abgegeben. Ich wollte schon damals meinen Abschluss nachholen, doch mein Vater meinte: Nein, wofür brauchst du das ...

Dann haben wir im Fernsehen die Berichte über Hatun Sürücü gesehen. Ich war geschockt. Mein Papa kann ja nicht so gut Deutsch, wir Kinder mussten ihm alles übersetzen. Er hat gesagt: Der kleine Bruder hat völlig richtig gehandelt, dass er seine Schwester erschossen hat, weil sie westlich leben wollte. Ich bin blass geworden, und mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Zu dem Zeitpunkt hatte ich innerlich schon meine Entscheidung gefällt. Damals wusste ich noch nichts von Gesetzen gegen Zwangsverheiratung, von Frauenhäusern, von meinen Rechten, aber ich wusste: Ich muss hier weg.

Als ich noch in die Schule ging, hat sich ein Lehrer besonders um mich gekümmert. Er hat die Schulleitung über meine Lage informiert, Beratungsgespräche mit Sozialpädagogen organisiert, schon die Stellen in Berlin kontaktiert. Heimlich, während der Schulzeit, damit es mein Vater nicht herausbekommt. Manchmal rief er mich auch abends an, dann habe ich heimlich unter der Decke mit dem Handy telefoniert. Mit meinem Job als Aushilfskraft im Supermarkt hatte ich mir ein bisschen Geld für die Flucht verdient. Die Fahrkarte nach Berlin konnte ich mir aber nicht leisten. Das Geld wollte mir der Lehrer unbedingt geben, heimlich, vor dem Unterricht. Dann wusste ich: Der Tag ist gekommen. Da war ich 18 Jahre alt.

In dem Briefumschlag von meinem Lehrer waren 100 Euro. Ich hatte solch ein schlechtes Gewissen, das anzunehmen. Aber dann bin ich los. Es war ein warmer Tag, ich hatte nur dünne Sachen an, mitgenommen habe ich nichts. Kein Kuscheltier, kein Foto, das wäre ja aufgefallen. Und Erinnerungen trägt man sowieso immer bei sich. Heute bin ich froh darüber, dass ich nichts mehr von damals habe, denn ich kann ja sowieso niemandem von meinem alten Leben erzählen.

Mein neues Leben begann am Bahnhof Zoo. Von da bin ich direkt zum Jugendnotdienst und von dort aus zu Papatya gefahren. Diese riesige Stadt, das war für mich der Hammer, ich durfte ja früher noch nicht mal in die Stadt, eine Freundin treffen. Die erste Zeit in Berlin war ich erleichtert, und zugleich fühlte ich mich sehr einsam. Ich war vorher noch nie länger getrennt von meiner Familie.

In Berlin habe ich mich erst mal bei den Mitarbeiterinnen der Kriseneinrichtung ausgesprochen. Auch darüber, dass einem hier von den Behörden gesagt wird: ,Geht doch einfach zurück, wo ihr herkommt.’ Aber ich will hierbleiben und so leben, wie ich es mir wünsche! Ich bin in die Zufluchtswohnung von Papatya gezogen. Den Mitarbeiterinnen danke ich von Herzen für ihre Unterstützung, ohne sie hätte ich es nicht so weit geschafft. Dank ihrer Zuwendung konnte ich zur Ruhe kommen und mir Gedanken über meine Zukunft machen. Mir war klar: Ich will hierbleiben und eine Ausbildung machen. Das war aber ein ziemlicher Kampf, überhaupt bleiben zu dürfen. Ich besaß eine sogenannte Wohnsitzauflage, die besagt, dass ich mich nur in meiner Heimatstadt ummelden darf. Aber von dort bin ich doch geflohen! Ich musste von Amt zu Amt, bis ich die Sondergenehmigung hatte. Gerade gestern habe ich meine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre bekommen, darüber bin ich glücklich. Dass ich nicht wieder wegen der Bürokratie zurück in die Hölle musste, habe ich einem Schreiben von Papatya und dem Integrationsbeauftragten zu verdanken, sonst hätten die Behörden darauf gepfiffen.

Schon bevor ich die Erlaubnis besaß, habe ich mich überall um eine Ausbildung beworben. Da ich mich aber noch nicht anmelden durfte, hieß es immer: Ohne polizeiliche Anmeldung bekommen Sie auch keinen Schulplatz. So hatte ich wiederum finanziell zu knapsen, ich musste mit den 13 Euro in der Woche von Papatya haushalten. Ich musste im Behördendschungel erst herausfinden, was mir zusteht, da kam eine Ablehnung nach der anderen. Für Hartz IV sollte ich ein 16-seitiges Formular ausfüllen, da waren lauter Angaben gefragt, an die ich nicht herankam, weil ich doch nicht die Unterlagen von meinen Eltern beschaffen konnte. Dann hieß es, ich solle Bafög beantragen. Aber auch dafür hätte ich deren Einkommensnachweis liefern müssen. Das hat vielleicht alles Nerven gekostet. Aber ich habe nicht aufgegeben. In meiner Heimatstadt waren die Sachbearbeiterinnen jedenfalls viel freundlicher als hier. Auf die Antworten zu warten, war aufregend genug. Aber dann bekam ich auf dem Amt noch den Schock meines Lebens. Da stand plötzlich zufällig ein Bekannter von mir! Ich bin schnell aus der Hintertür gerannt, mein Herz hat gepocht ohne Ende. Um ihren Aufenthaltsort zu verschleiern, lassen ja manche Frauen einen Brief an die Familie von Bekannten im Ausland einwerfen, das habe ich auch schon gehört.

Ich musste trotzdem nochmal zurück in die Höhle des Löwen, in meine Heimatstadt, ich wollte unbedingt die Prüfung für meinen Schulabschluss machen, damit ich nicht in Berlin von vorne anfangen muss. Das war krass, ich war so aufgeregt. Ich habe weite Klamotten angezogen, Käppi und Sonnenbrille aufgesetzt und die Haare nach oben gesteckt.

Die Prüfung habe ich unter Polizeischutz absolviert, zwei Beamte standen in Zivil vor der Schule. Gleich drei Lehrer hatten mich vom Bahnhof abgeholt, das waren meine Bodyguards. In der Klasse hat mein Herz so geklopft, doch die Lehrerin sagte: ,Tief Luft holen, du schaffst das.’ Sie hatte recht. In der schriftlichen Prüfung habe ich zwei Einsen gemacht und eine Zwei, meine Abschlussnote ist 2,2.

Ich will was aus meinem Leben machen, deshalb hänge ich mich in meine kaufmännische Ausbildung rein. Ich suche noch einen Nebenjob. Ich bin ja sehr ehrgeizig. Mein Vater hat immer gesagt, wenn du ein Junge wärst, dann könnte ich stolz auf dich sein. Ich versuche in meinem neuen Leben so gut wie möglich zurechtzukommen. Ich will unbedingt die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, damit ich meinen Namen ändern lassen kann. Mit dem Namen ist das so ein Problem. Ich war lange nicht krankenversichert, weil ich Angst hatte, mich über meinen Papa anmelden zu lassen. Die Krankenkasse hat das jetzt anonym gemacht, mit der Auflage, es ihm nicht mitteilen zu dürfen. Ich hoffe inständig, dass sie dichthält.

Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich dank der früheren Ausländerbeauftragten Frau Barbara John eine Wohnung bekommen habe. Der neue Frauennothilfeverein Hatun und Can unterstützt mich auch, sie haben mir Geld für Möbel gegeben und die Kaution übernommen. Eine große Freude für mich. Ich bin auf meine erste eigene Wohnung sehr stolz. Aber ich habe auch Sorge, ob ich das alleine alles schaffe, da kommt ja viel Verantwortung auf mich zu. In meiner Situation habe ich aber gelernt, keinen Schritt vor dem anderen zu machen.

Ich lebe ein Leben ohne Vergangenheit. In meiner Schule wissen sie nichts, bis auf meine Lehrerin. Die Leute mögen mich aber, ich bin Klassensprecherin. Wenn sie Fragen stellen wie ,Kennst du diesen Club oder jenen Park?’ – dann sage ich immer: Ich bin gerade erst hergezogen. Das habe ich mir als Notlüge ausgedacht. Ich bin gerade zum ersten Mal verliebt, da habe ich auch Angst. Wenn mich mein Freund was fragt, was soll ich denn sagen? Ich habe so eine Angst, dass etwas auffliegen könnte, unter den Türken kennt ja jeder jeden über drei Ecken. Ich bin leider so misstrauisch geworden. Auch als wir zwei uns eben trafen, dachte ich zuerst: Was steht da für eine Person so verdächtig in der Gegend herum? Ich liege ehrlich gesagt oft nachts wach und kann nicht mehr einschlafen. Dann kreisen die Gedanken, ich kann das nicht abstellen. Das ist wie bei einem Computer. Den stellt man aus, aber auf der Festplatte sind die Akten trotzdem existent. Um sie schließen zu können, will ich irgendwann mal eine Therapie machen. Ich träume davon, selbst eine Familie zu gründen. Ich möchte meine Kinder freizügig erziehen, ihnen aber auch Grenzen aufzeigen. Wenn ich richtig Fuß gefasst habe, möchte ich mich für Frauen, die in einer ähnlichen Lage sind wie ich, ehrenamtlich engagieren.

Was mir die Kraft gibt, so weiterzuleben? Der Glaube an mich. Und sogar die Missachtung meines Vaters gegenüber Frauen. Ich will ihm beweisen, was ich alles kann. Obwohl er es niemals erfahren geschweige denn wertschätzen wird. Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben und von einer Freundin woanders einstecken lassen. Der kam richtig von Herzen, ich habe mir einfach mal alles von der Seele geschrieben. Ich weiß nicht, ob er das jemals verstehen wird. Ein paar Mal habe ich auch von Papatya aus meine eine Schwester angerufen, damit sie weiß, dass ich noch lebe. Meinen jüngeren Geschwistern hat mein Vater erzählt, dass ich Schande über die Familie bringe und dass ich für ihn gestorben bin. Ich möchte nicht wissen, was sie für ein Bild von mir haben. Ich habe trotz allem oft Sehnsucht nach allen. Ob ich mir irgendwann mal ein Wiedersehen vorstellen kann? Vielleicht in ein paar Jahrzehnten. Aber nur auf einer Polizeiwache, unter Polizeischutz. Ich traue mich aber nicht, meinen Vater anzuzeigen, dann würde er noch mehr auf Rache sinnen.“

Annette Kögel

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