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Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.

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Meine Heimat: Kollateralschaden

Hatice Akyün über rechte Hetze und den Kampf um Menschenwürde.

Berlin ist einzigartig. Hier trifft alles aufeinander und jeder auf jeden. Berlin ist zu einer weltweit geachteten Metropole des Miteinanders gewachsen, zu einer toleranten und weltoffenen Stadt. Diese Sätze stammen nicht etwa von mir. Klaus Wowereit hat sie gesagt, man kann es auf seiner Webseite lesen. Ein wenig Wunschdenken schwingt offenbar mit in den Worten des Regierenden. Am Ende fügt er hinzu: „Und dafür werde ich mit voller Kraft weiter kämpfen.“

Dabei ist Berlin schon mittendrin im Kampf. Aber nicht so, wie sich Klaus Wowereit das wohl vorgestellt hat. In mehreren Bezirken protestierten Menschen dagegen, dass Flüchtlinge und Asylbewerber in ihre Nähe ziehen sollen. Hunderte kamen zu einer Informationsveranstaltung in Hellersdorf, die die NPD zur Provokation missbrauchte und auf der es zu schlimmen rassistischen Entgleisungen und Pöbeleien kam. Vom braunen Rand bis tief in die Mitte der gebildeten Gesellschaft hinein ist man sich einig, dass man „die“ auf keinen Fall in seinem Wohnumfeld haben will. Wer aber glaubt, dass Fremdenfeindlichkeit Nachwehen des DDR-Sozialismus seien, muss nur einen Blick nach Kreuzberg werfen. Am Oranienplatz campieren seit Monaten Flüchtlinge, die gegen die Residenzpflicht demonstrieren. Migranten, deren Eltern und Großeltern einst selbst nach Kreuzberg eingewandert sind, sehen im Ausgrenzen der Flüchtlinge die Chance, einen Beitrag zu ihrer Integration zu leisten. „Die Scheißneger belästigen unsere Frauen“, riefen sie lauthals und merkten nicht einmal, dass sie längst Sprache und Gedankengut der Neonazis übernommen haben.

Diese Menschen, die ein verbrieftes Recht auf ein faires Asylverfahren haben, werden wie Subjekte dritter Klasse behandelt. Sie haben keine Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme, und weil sie aufgrund der Residenzpflicht ihren Wohnort kaum verlassen dürfen, haben Sie wenig Möglichkeiten, Anschluss an Umgebung, Kultur und Land zu finden. Sie sind der geduldete Kollateralschaden der Welt, der ihre Menschenwürde zum Konjunktiv werden lässt. Man würde gerne helfen, aber...

Friedrich der Große machte diese Stadt zu einem Auffangbecken für Flüchtlinge und Verfolgte, und es hat ihr nicht geschadet. Unumwunden gebe ich zu, auch ich bin nicht ohne Vorurteile, und so manches, was ich auf unseren Straßen sehe, befremdet mich. Es fällt mir nicht leicht, das zu überwinden. Aber ich arbeite daran, stempele sie nicht ab.

Wir sind eine entwickelte Gesellschaft, die sich durch humanistische Werte auszeichnet. Wir sind weit entfernt davon, perfekt zu sein, aber um Lichtjahre den Ländern voraus, deren Bewohner aus Angst um ihr Leben flüchten mussten. Christen, Muslime, Juden und Buddhisten eint die Barmherzigkeit. Manchmal würde es reichen, sich nur kurz vorzustellen, wie es denn andersherum wäre. Herumgestoßen und abgelehnt, ausgegrenzt und gerade noch geduldet, ohne Perspektive. Mich erfüllt es mit Scham vor so viel unverhohlenem Egoismus und Verweigerung vor einer Welt, auf deren Sonnenseite wir leben. Umso wichtiger ist es, dass die andere Seite nun erwacht ist. In ganz Berlin stellten sich am Sonnabend Bürger den rechten Hetzern entgegen und verhinderten, dass die NPD mit ihren menschenverachtenden Parolen Gehör fand.

Solange uns die Welt egal ist, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Flüchtlinge vor unserer Tür stehen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Sorma kisinin aslini, sohbetinden belli eder.“ Frage niemanden nach seiner Herkunft, er wird sie mit seinen Erzählungen offenbaren.



Hatice Akyün
ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Sie schreibt immer montags an dieser Stelle

über ihre Heimat.

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