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Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.

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Meine Heimat: Tor zu Welten

Hatice Akyün wünscht sich mehr Binnentourismus von Berlinern.

Neulich traf ich zufällig einen Bezirksbürgermeister. Er erzählte mir von Jugendlichen in seinem Bezirk, die dort geboren seien, aber noch nie das Brandenburger Tor gesehen hätten. Als Schülerin wären mir viele Museen und Wahrzeichen im Ruhrgebiet fremd geblieben, wenn unsere Lehrer nicht Ausflüge dorthin organisiert hätten. Vielleicht, weil sie ahnten, dass wir, die Ausländerkinder, diese Orte sonst nie besuchen würden. So schlug ich dem Bezirksbürgermeister vor, dass Schulen Ausflüge zum Brandenburger Tor organisieren.

Zu Hause dachte ich noch einmal an das Gespräch. Ich selbst habe auch nur einen Bruchteil von der Stadt gesehen, der gemeinhin als sehenswert gilt. Ich war noch nie in Köpenick, Hohenschönhausen oder Reinickendorf. In Friedrichshain war ich nur einmal in einer Kneipe, das ist aber schon wieder zehn Jahre her, und in Pankow nur, weil ich von der Bekannten einer Bekannten zum Gartenfest eingeladen wurde. Wieso wundere ich mich also, dass Jugendliche aus dem Wedding noch nie am Brandenburger Tor waren?

Meine Berlinbesucher liegen im Vergleich zu mir kilometerweit vorne. Jedes Mal, wenn der süddeutsche Freund herkommt, hat er zwei oder drei Orte, die er sich vornimmt. Ein altes Kino im Wedding, eine Fabrikanlage in Adlershof, irgendeine Fotoausstellung in der Nordischen Botschaft, einen Friedhof mit den Heroen der Zeitgeschichte.

Dann fiel mir die Lösung ein: Wenn die jeweiligen Kiezkenner und Kiezkönner Stadtteilsafaris durch ihren Bezirk organisieren würden, könnten wir jenseits der Zuschreibungen von „in“ und „out“ die vielen liebenswerten Ecken unserer Stadt kennenlernen. Und umgekehrt zeigen wir den anderen unseren ganz persönlichen Kiez. Und bei der Gelegenheit könnte man all jenen Jugendlichen, die von ihrer Stadt nur den Schulweg und die Sicht aus dem Fenster der Elternwohnung kennen, den Blick öffnen und sie mit Neugier anstecken.

Jahr für Jahr bricht die Stadt Übernachtungsrekorde. Wie wäre es also mit selbst organisiertem Binnentourismus? Jetzt in der dunkelnassen Jahreszeit könnte man die Einrichtungen drinnen aufsuchen, wenn es wieder hell wird, kommen die Plätze, Parks und interessanten Gebäude dran. Damit das aber nicht wieder am Geld scheitert, könnte man einen Tag in der Woche zum Nachbarschaftsbesuch erklären. Jeder kann zwei oder drei Einheimische auf seiner Eintrittskarte mitnehmen und ihnen seine Museen, Ausstellungen und besondere Orte zeigen. Oder wir verkünden eine Jahresrallye: Jeder, der zehn neue Orte kennenlernt, bekommt sein Eintrittsgeld zurück.

Berlin ist zum Glück nicht eintönig. Es gibt jede Menge Potenzial, um den öffentlichen Raum der Öffentlichkeit zurückzugeben. Das kann man nicht verordnen, sich aber vornehmen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Komsunun tavugu komsuya kaz görünürmüs.“ Das Huhn des Nachbarn sieht für den Nachbarn wie eine Gans aus.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in

Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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