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Berlin: Meisterin im Luftholen

Man kann auch so weltberühmt werden: Die Berlinerin Ilse Middendorf unterrichtet seit 40 Jahren das gesunde Atmen. Jetzt ist sie 95, und ihre Ideen werden sogar in der Schweiz und in den USA gelehrt

Einfach nur atmen, das gibt es für Ilse Middendorf nicht. Sie öffnet ihre rechte Hand und spreizt die Finger, dann macht sie eine lockere Faust. „Sie auch“, befiehlt sie. Hand öffnen, einatmen, Hand wieder schließen und dabei ausatmen. Und noch einmal. „Spüren Sie das?“, fragt Ilse Middendorf. Verblüffend. Die Atmung, die fast immer unbewusst abläuft, ist körperlich spürbar. Ilse Middendorf lächelt. „Das war die erste Lektion, was den Erfahrbaren Atem betrifft“, sagt sie und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.

Seit 40 Jahren unterrichtet Ilse Middendorf ihre Lehre vom Atmen, das sich positiv auf Gesundheit und Seelenzustand auswirken soll. Ihr Basislager ist schon immer die ehemalige Stadtwohnung von Kaisertochter Viktoria-Luise in Schöneberg – aber nach und nach kamen noch drei weitere Institute in Deutschland hinzu, wo ihre Lehre auf dem Stundenplan steht, einige in der Schweiz und seit 1990 auch eins in San Francisco, das sie bis vor wenigen Jahren noch regelmäßig besuchte. Von 1965 an war Ilse Middendorf außerdem zehn Jahre lang Professorin an der Berliner Hochschule für Musik und Bildende Kunst, wo sie Schauspielern ihre Atemlehre vermittelte. Sie hat sprachgestörte Kinder behandelt, zwei Bücher veröffentlicht und noch im Juni bei einem Kongress gesprochen. Man kann berühmt werden mit Atmen.

Ilse Middendorf steht auf. Sie will eine Führung machen durch die Behandlungs- und Seminarräume. Sie könne nicht mehr ganz so schnell, schließlich sei sie schon 95 Jahre alt, sagt sie und meint das kokett; vorsichtig steigt sie die Treppe zum ehemaligen Ballsaal hinab.

Hier, auf knarrenden Dielen, hat Ilse Middendorf schon hunderten Schülern Anleitung zu einem neuen Atembewusstsein gegeben. „Im Grunde geht es darum, den eigenen Atem kennen zu lernen, um sich selbst kennen zu lernen.“ Das klingt, mit Verlaub, doch ein wenig esoterisch. Ilse Middendorf lächelt ihr mildes Lächeln. „Unser Atem funktioniert, ohne dass wir uns darüber bewusst sind“, sagt sie. Aber: Jede noch so kleine Bewegung bewirke ein anderes Atmen.

Ilse Middendorf führt ihre Hände zusammen und drückt die Fingerspitzen fest aneinander. „Jetzt atme ich tief“, sagt sie. Dann verschränkt sie die Finger und drückt die Handflächen gegeneinander. „Jetzt kommt mein Atmen viel leichter.“ Sie hebt ihre rechte Schulter und atmet, dann lässt sie die Schulter wieder sinken und atmet. „Jede Bewegung, ein anderes Atmen.“ Sie legt ihre rechte Hand auf den Bauch, die linke auf ihre Rippen und atmet. Dann legt sie eine Hand auf den Rücken, die andere in den Nacken und atmet. „Mit dem Einatmen spüre ich Gegenden meines Körpers weit werden, und beim Ausatmen schwingen sie wieder zurück“, erklärt sie. Atem, sagt Middendorf, sei die Grundbewegung des Lebens.

Sich dieser Bewegungen bewusst zu werden, die den ganzen Körper „von den Füßen bis unter die Schädeldecke“ erfassen, das möchte Ilse Middendorf vermitteln – als Therapie gegen Stress und für Ausgeglichenheit und Körperbewusstsein. „Der Erfahrbare Atem macht feinfühliger, gibt Kraft, wirkt auf die Gesundheit und erhöht die Konzentrationsfähigkeit.“ Doch wer herkommt und schnell mal eine Übung gegen Kopfweh oder Schlaflosigkeit lernen will, den muss sie enttäuschen. Der Erfahrbare Atem brauche Geduld, es gehe ja um ein Bewusstwerden des ganzen Körpers.

Mit der Schulmedizin hat die Atemtherapie – die Pneopädie oder Pneotherapie – nicht viel zu tun; sie wird zu den alternativen Heilverfahren gezählt. Die Therapeuten gehen davon aus, dass der Atem am intensivsten unter den Körperfunktionen mit allen Ebenen von Körper und Geist verbunden ist. Angst, Stress und Unsicherheiten wirkten sich auf die Atemweise aus und können zu dauerhaft unnatürlichen Atemmustern führen, die wiederum körperliche und seelische Beschwerden auslösen können. Ein Erwachsener atmet pro Minute immerhin zwölfmal, ein Kind etwa 20-mal und ein Neugeborenes bis zu 40-mal. Bis zu fünf Millionen Kubikmeter Luft füllt der Mensch im Laufe seines Lebens in seine Lungen.

Schulmediziner empfehlen die Atemtherapie durchaus, zur Entspannung bei Asthma, Verspannungen oder stressbedingten Kopfschmerzen. Aber ein Karzinom lässt sich nicht wegatmen, und deshalb warnen sie vor den vielen Scharlatanen, die sich auf diesem Feld herumtreiben. Die anbieten, per Atemschulung die Selbstheilungskräfte zu aktivieren oder seelische Traumata zu heilen.

Ilse Middendorfs Lehre ist eine Mischung aus Meditation und Bewegungstherapie. Beobachtet man sie, dann wirkt das mal wie Tai-Chi, dann wieder wie moderner Tanz. Sie lässt dabei den Atem kommen, ohne Einfluss zu nehmen. Das, sagt sie, unterscheide ihre Atemlehre von anderen. Während bei Yoga zum Beispiel der Atem ganz bewusst eingesetzt wird, lässt sich Ilse Middendorf von ihm führen. „Wenn wir den Atem so kommen lassen, wie er ist, uns ihm unterordnen, dann gibt er uns Hilfe, Anregung und Heilung.“ Ilse Middendorf sagt solche Sätze mit einer sanften Überzeugung, die kaum Widerspruch duldet. Sie hat ihr Leben dem Atem gewidmet und es dabei gewissermaßen zur Meisterschaft im Luftholen gebracht. Wie sie mit 95 da sitzt, wach und konzentriert, die Arme immer in Bewegung, gesund bis auf die Probleme beim Treppensteigen und mit dem rechten Ohr, ist sie sich Beweis genug. Fragt man sie, wie das alles begann, erzählt sie eine Geschichte vom Unkrautjäten.

Elf Jahre alt war sie, da stand sie im elterlichen Garten, lustlos, so ein dummes Wochenende. Seufzend streckte sie sich, stieß die dürren, blassen Ärmchen in die Luft und atmete tief. „Auf einmal wurde mir der Atem ganz stark bewusst. Ich war so durcheinander, dass ich mich zitternd setzen musste.“ Wenn Ilse Middendorf erzählt, schließt sie oft die Augen und scheint dabei für kurze Zeit ihr Gegenüber zu vergessen .

Der Atem ließ Ilse nicht mehr los. Sie erzählte ihren Eltern davon. Die tätschelten ihr zerstreut den Kopf. „Ich war meinen Eltern nie böse“, sagt Ilse Middendorf. Was sollten die auch von einer Tochter halten, die esoterische Gedanken hatte, bevor es Esoteriker überhaupt gab. In Frankenberg lebten sie, einer Kleinstadt kurz hinter Chemnitz. Sie besaßen einen Tante-Emma-Laden, bürgerliche Werte wurden hochgehalten. Die Vorstellungen vom Leben waren so klar und einfach, da kamen Gedanken über das Atmen gar nicht vor.

Nach der Schule begann Ilse Middendorf eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin; mehr Kompromissbereitschaft konnte sie von den Eltern nicht erwarten. Sie ging nach Lichtental bei Baden-Baden, 1929 war das, und traf dort auf die Gesellschaft um den Bildhauer Aurelius Bäuerle, die sich mit tibetischen Atemübungen beschäftigte. Drei Jahre blieb sie, machte ihr Examen als Gymnastiklehrerin und ging dann nach Berlin. Hier traf sie auf den Atempädagogen Cornelis Veening, der sie darin bestärkte, ihren eigenen Weg zu gehen. Ilse Middendorf eröffnete also eine Gymnastikpraxis und begann, sich noch intensiver mit dem Atem zu beschäftigen. „Zehn Jahre lang, jeden Morgen von fünf bis sieben, saß ich in meiner Kammer und versuchte, den Atem zu verstehen.“ Sie saß, atmete, lauschte. „Sammeln, empfinden, atmen“, nennt sie das. Sie fragte ein paar Frauen in ihrer Praxis, ob sie Lust auf die von ihr entwickelte Atemtherapie hätten. Sieben sagten zu. Seitdem hat Ilse Middendorf ununterbrochen unterrichtet.

Dass Ilse Middendorf 1940 heiratete, ihren Mann aber schon vier Jahre später an den Krieg verlor, dass sie noch einmal heiratete und ihr Sohn, mittlerweile 63, nach Jahren als Bauingenieur nun selbst als Atemtherapeut arbeitet, erzählt sie nur am Rande. Das Atmen ist ihr Thema, und darüber spricht sie am liebsten. „Ich hatte 60 Jahre lang immer gleich viel zu tun“, sagt Ilse Middendorf. Jetzt zieht sie sich langsam aus dem Institut zurück, unterrichtet nur noch selten. Aber die Auseinandersetzung mit dem Atem, die bleibt. Sie streckt beide Arme über den Kopf und sagt: „Sie auch.“

Das Ilse-Middendorf-Institut, Viktoria-Luise-Platz 9, bietet auch Seminare für jedermann, von Grundseminaren bis zu Einzelbehandlungen. Mehr: www.erfahrbarer-atem.de oder Telefon 21479530.

Dirk Becker

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