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Berlin: Micha Wendt (Geb. 1955)

Der erste Berliner Grüne, ganz offiziell. Mitgliedsnummer 1

Die zwei Fenster zur Straße, zwischen denen er am Schreibtisch saß, standen häufig offen, auch im Winter. Er war Kettenraucher und lüftete gern. Aber durch die Fenster der Parterrewohnung hielt er auch Kontakt zu seinen Kreuzberger Nachbarn, die hineinwinkten oder auf ein Wort stehen blieben.

„Jetzt sitz ick bald mein halbes Leben im Rollstuhl“, sagte er vor kurzem zu einer Freundin, als ihm aufgefallen war, dass er schon vor über zwanzig Jahren ins Parterre gezogen ist. Das klang fast ein wenig verwundert, denn bis auf etwas Hilfe am Morgen und Abend hatte Micha es geschafft, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren. Gegen übertriebene Fürsorge wappnete er sich mit gutmütigem Spott: „Is’ lieb von dir, lass ma’ gut sein. Brauch ick nich’ …“

Micha Wendt war der erste Berliner Grüne, ganz offiziell. Mitgliedsnummer 1, ausgestellt am 6. Oktober 1978. Von ihm selbst. Am Tag davor waren 400 Beitrittserklärungen bei der Gründungsversammlung der Alternativen Liste abgegeben worden, und Micha gehörte zu jenen, die diesen Papierhaufen zu bearbeiten hatten. 400 Leute, die sich aus den unterschiedlichsten politischen Lagern und Gruppierungen zusammengefunden hatten, um eine neue Partei zu gründen. Der Rechtsanwalt Otto Schily wollte einen Unvereinbarkeitsbeschluss fassen, wonach man nicht gleichzeitig Mitglied einer anderen politischen Organisation hätte bleiben dürfen. Micha wollte, dass alle mitmachen konnten. 400 Menschen mit 400 Egos, wo fängt man da an? Micha fing halt bei sich selbst an.

Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist unter Männern nicht die weitestverbreitete, schon gar nicht unter jungen Männern. Unter den neun Abgeordneten der ersten grünen Fraktion, die 1981 in das Berliner Abgeordnetenhaus einzog, war Micha Wendt der jüngste. Die neue Partei konnte es eigentlich niemandem recht machen, Hausbesetzerszene, Umweltbewegung, die etablierten Parteien und die Zeitungen, alle prügelten auf sie ein. Micha war ein sehr kritischer, ernsthafter Abgeordneter, aber das waren andere auch. Es war seine Empathie, die es ihm möglich machte, nicht in Freund-Feind-Kategorien zu denken, sondern andere zu verstehen. Damit entwickelte er eine Autorität, die ihn faktisch zum Fraktionschef werden ließ.

Auf einer Fahrt mit der U-Bahn spürt Micha plötzlich ein Kribbeln in den Beinen, als wären sie eingeschlafen. Er kann nicht aufstehen, den Waggon nicht verlassen. Der Notarzt muss gerufen werden. Der Befund: eine unerklärliche Durchblutungsblockade in der Wirbelsäule, vielleicht die Spätfolge einer unerkannten Malariainfektion. Micha hatte einige Zeit zuvor einen Freund, der als Entwicklungshelfer in Afrika lebte, besucht. Alles Spekulationen, die Gründe für den Bruch in Michas Leben blieben im Dunkeln.

Es ging ihm darum, möglichst wenig Aufhebens um seine Behinderung zu machen. Die Politik ging weiter, und als Bezirksstadtrat in Neukölln war er im Rollstuhl aktiver und besser ansprechbar als so mancher Kollege mit Dienstwagen oder Fahrrad.

Politik kann ein Familienersatz sein; für Micha war sie es. Seine Mutter wünschte sich, dass er mehr aus seinem Ingenieursstudium gemacht hätte. Bezirksstadtrat, das klang zu sehr nach Amt und Formularen. Seine politische Familie traf Micha jahrzehntelang zu Klatsch und Tratsch in seinem Kiez rund um den Südstern.

Als er sich im Januar eine schwere Grippe eingefangen hatte, redeten die Freunde auf ihn ein, er solle sich mal schonen und einen Arzt rufen.

Er hat zum Schluss noch Kaffee aufgesetzt und eine geraucht. Und dann hat er gelüftet und ist bei offenem Fenster eingeschlafen. Sebastian Rattunde

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