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Berlin: Mit eisigen Füßen gegen das Großkapital

Wenn die Kälte der Nacht in die Schlafsäcke kriecht, helfen den Occupy-Aktivisten auch glühende Protestgesänge nicht weiter

Sieben Lagen Kleidung, das sollte gegen die Kälte reichen. Im Zeltlager der Occupy-Aktivisten auf dem besetzten Gelände des Bundespressestrands kehrt eine Stunde vor Mitternacht langsam Ruhe ein. Nur Nachtwächter Paolo dreht seine Runde. „Ich muss bis zum Morgen darauf achten, dass kein Unbefugter das Camp betritt“, sagt er. Eigentlich heißt er anders, wie, verrät er nicht, sicher ist sicher.

Ab und zu tritt Paolo an eines der Lagerfeuer, wärmt sich die Hände, bis er weiterzieht. Hinter ihm trottet der Werkzeughund. Der wird von allen so genannt, weil er auf dem Rücken eine Packtasche trägt. Darin ist alles verstaut, was man für kleinere Reparaturen benötigt. Gerade wurde für den Stromanschluss des Lagers ein Sicherungskasten als Spende abgegeben, Paolo will ihn sofort einbauen. An sich ist er Grafikdesigner, aber das traut er sich zu, und es hilft ihm durch die Nacht, Arbeit hält wach und warm. Und ohnehin, der Winter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Jeden Tag kann er mit Schnee und Eis über das Camp hereinbrechen. Die Aktivisten müssen dagegen gewappnet sein, ihr Lager schleunigst winterfest machen. Glühende Protestgesänge werden nicht reichen.

Rund 70 Zelte stehen auf dem sandigen Boden. Das Licht des Hauptbahnhofs, kalt wie die Nacht, reicht bis hierher. Immerhin sind die Zeltbewohner satt geworden, es hat geschmeckt. Das war nicht immer so, in den ersten Tagen gab es nur Suppe, abwechselnd mit Bohnen oder Kürbis. An diesem Abend aber ein Festessen: Reis süß-sauer. Dank einer Spende hatte Andi Kappeller, der Koch, die hungrigen Aktivisten damit überraschen können. Und zum Dessert gab es sogar Kuchen.

Bis vor einem Monat war Kappeller noch Mietkoch und verköstigte vor allem gut betuchte Gäste mit erlesenen Speisen, unter anderem bei der Formel 1: „Damals habe ich für das eine Prozent der Superreichen gekocht, heute sind es die anderen 99.“ Eine Woche vor Errichtung des Occupy-Zeltlagers hatte ihn ein Freund gefragt, ob er sich vorstellen könne, als Koch dabei zu sein. Konnte er. Er sei kein politischer Mensch, sagt der Berliner. Ihm gehe es vielmehr darum, diejenigen zu versorgen, die sich schließlich auch für ihn den Arsch aufreißen würden. In eine dicke Jacke gepackt, mit dunklen Stoppeln im Gesicht steht Kappeller im Küchenzelt. Auch wenn sonst im Camp jede Stimme gleich viel zählt, hier ist er der Chef. Gemeinsam mit seiner Freundin sortiert der 35-Jährige Lebensmittelspenden, koordiniert die Helfer. Dreimal am Tag macht er die Aktivisten satt – vegetarisch. Kappellers Küche wirkt aufgeräumt. Ob Marmelade oder Brot, alles hat sein Regal oder seine Kiste. Doch trotz guter Organisation: Der Koch hat Sorgen. Mit einem Fuß tritt er gegen einen Heizstrahler, der ausgeschaltet ist, weil im Camp langsam das Gas ausgeht. Nachts versagen in der Kälte auch schon mal die elektrischen Geräte.

Ohnehin, wer hier übernachtet, braucht eine gute Strategie gegen steife Gliedmaßen. Die einen wärmen Steine am Lagerfeuer und stecken sie in den Schlafsack, andere ziehen jedes Kleidungsstück über, das sie haben. Nur die 28-jährige Lisa aus Köln – nennen wir sie so – schläft nackt. „So ist der Körper gut durchblutet“, glaubt sie. Nur eine Mütze müsse sein, damit die Wärme nicht über den Kopf entweiche. Seit sechs Wochen reist sie mit ihrer zehnjährigen Tochter und drei Spaniern in einem Kleinbus zu Occupy-Gruppen in Deutschland. Ihr letztes warmes Bad hatte sie in Bremen.

Bevor sie in ihren Schlafsack kriecht, macht sie es sich erst mal mit den anderen Campbewohnern im größten Zelt gemütlich – dort, wo Freitagnacht auch die Ikone der Protestbewegung, die US-amerikanische Bürger- und Menschenrechtsaktivistin Angela Davis, zu Gast war und sich solidarisch mit den Teilnehmern erklärte.

Normalerweise werden in jenem Zelt bis spät in die Nacht Versammlungen abgehalten, sogenannte Assambleas, bei denen etwa über einen Brief diskutiert wird, in dem sie den den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit um eine feste Bleibe für ihr Protestcamp bitten. Doch heute hat einer der Aktivisten Geburtstag, da wurde das Alkoholverbot ausnahmsweise gelockert. Angestoßen wird auf die Revolution, und der Lagerbarde singt mit näselnder Stimme: „Die Ordnung ist im Arsch, lass uns was Neues aufbauen.“

Antonie Rietzschel

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