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Mordfall Sürücü: Familie will Brüder nicht belasten

Im Mordfall Hatun Sürücü bleibt auch nach dem Geständnis des jüngsten Bruders vieles rätselhaft. Zwei Geschwister treten zwar als Nebenkläger auf, über ihre Motive gibt es aber viele offene Fragen.

(Der Tagesspiegel, 17.09.2005)

- Wie sich jetzt herausstellte, treten ein Bruder und eine Schwester als Nebenkläger auf. Allerdings will die Schwester die vermeintlichen Täter gar nicht belasten, sondern nach eigenen Angaben lediglich "die Wahrheit herausfinden".

Der jüngste, 19-jährige Bruder hatte am Mittwoch ausgesagt, er allein habe die tödlichen Schüsse auf seine Schwester abgegeben. Hatun Sürücü war im Februar erschossen worden, weil sie einen westlichen Lebensstil pflegte: Sie legte ihren Schleier ab, lebte mit ihrem Kind allein und machte eine Ausbildung. Drei ihrer fünf Brüder sitzen jetzt auf der Anklagebank. Ob der 24- und der 26-jährige Bruder von den Mordplänen wussten, ist unklar.

Hatuns Schwester Arzu, 22, und ihr Bruder Emra, 33, treten im Prozess als Nebenkläger auf und unterstützen damit zumindest formal die Anklage der Staatsanwaltschaft. Die Boulevardpresse hatte Arzu mit dem Satz zitiert: "Unsere Brüder haben die Familie zerstört." Davon distanzierte sich die junge Frau gestern im Gespräch mit dem Tagesspiegel: "Das sind alles Lügen. Ich liebe meine Brüder." Sie trete zwar als Nebenklägerin auf - aber lediglich "um zu erfahren, was passiert ist".

Die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates kann das nicht nachvollziehen. "Wenn die Schwester als Nebenklägerin nicht die Motivation hat, ihre Brüder anzuklagen, entspricht das nicht dem Verständnis einer Nebenklage", sagte Ates. Die Nebenklage diene dazu, die Interessen eines Opfers gegenüber dem Täter zu vertreten. Als Nebenklägerin hat Arzu Sürücü das Recht, Anträge zu stellen, etwa, damit weitere Zeugen vernommen werden können. Auch könne sie hinterher in Revision gehen, sagte ihr Anwalt Abdurrahim Vural. Was Vural nicht sagt, was aber theoretisch möglich wäre: Die Rechtsmittel könnten auch im Sinne der Verteidigung der Brüder eingesetzt werden.

Vural tritt in dem Prozess nicht nur als Anwalt auf, sondern auch als beobachtender Vertreter der "Islamischen Religionsgemeinschaft", eine Partnerorganisation der Islamischen Föderation. "Der Prozess hat eine grundsätzliche Bedeutung, denn die Brüder sind hier in Deutschland aufgewachsen. Wenn in ihren Köpfen dennoch solche mörderischen Gedanken vorhanden sind, ist das ein Problem, das die gesamte islamische Gemeinschaft angeht", sagt Vural.

Seine Mandantin Arzu ist schockiert über Berichte, in denen ihrer Familie unterstellt wird, sie habe von den Mordplänen gewusst. "Hatun war meine Schwester, mein Herz und meine Seele, die getötet wurde." Rechtsanwalt Thomas Arndt vertritt den ältesten Bruder Emra, der zurzeit eine Strafe wegen eines Drogendeliktes im offenen Vollzug verbüßt und ebenfalls als Nebenkläger auftritt. "Er ist mit der Tötung seiner Schwester nicht einverstanden, deshalb tritt er als Nebenkläger auf", sagte Arndt. Auch ein drittes Familienmitglied, Melahat Sürücü, eine Schwägerin der Toten, hat sich geäußert - in einer Fernsehdokumentation des Westdeutschen Rundfunks, die am Montag und Donnerstag ausgestrahlt wurde. Hatun sei nicht so akzeptiert worden, wie sie war, sagte Melahat. Allerdings griff die Schwägerin nicht allein die Familie der Toten an, sondern sie machte das strenge Ehrverständnis "der kurdisch-türkischen Gesellschaft" für den Mord verantwortlich. Der Prozess wird am Montag fortgesetzt.

(Von Sabine Beikler, Claudia Keller und Marc Neller)

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