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Deutsch-französische Verbindung. Großes Berlin-Treffen: Zum Geburtstag von Gudrun Boisseau - vorn in der Mitte mit ihrem Mann Michel - kamen Familie und Freunde zusammen: ganz links Tochter Fabienne mit Mann Matthieu. Hinter ihr Tochter Lily (13), vor ihr Edmée (5). Matthieu hat Achille (10 Monate) auf dem Arm. Dessen Zwillingsschwesterchen Philomène wird von Lucien Westermeyer (11) gehalten, der den Aufsatz geschrieben hat. Tochter Sylvie Boisseau und ihr Mann Frank stehen hinter Gudrun Boisseau, vor ihnen im grünen Shirt Sohn Ernesto (7). Die weißhaarige Dame ist Gudruns Cousine Karin Malicke, und die Runde komplettiert Freundin Monika Schraps, die damals "Liebesbotin" für Michels Briefe spielte.

© Mike Wolff

Tagesspiegel-Serie "20 Wende-Geschichten": Nach Paris, der Liebe wegen

Für ihre deutsch-französische Ehe mussten Gudrun und Michel Boisseau in der DDR fünf Jahre kämpfen. Als die Mauer fiel, luden sie die ganze Familie nach Paris ein – und zogen im Trabikorso über die Champs Élysées.

„Sie blieben eine Woche in Paris und machten den größten Trabikorso aller Zeiten auf der Avenue des Champs Élysées.“ - Aus dem Aufsatz von Noah Maiß und Lucien Westermeyer

„Die erste Begegnung meiner Eltern war höchst romantisch.“ Sylvie Boisseau warnt ihren Sohn Lucien gleich vor, als er sich für den Aufsatz-Wettbewerb des Tagesspiegels gemeinsam mit seinem Klassenkameraden Noah Maiß die Familiengeschichte erzählen lassen will. Stimmt, muss Lucien zugeben. „Vier Tage nach der Errichtung der Mauer, am 17. August 1961, lernten sich Gudrun Thiel aus Waltershausen und Michel Boisseau aus Paris auf der Wartburg in Thüringen kennen“, schreibt er. Und alles begann mit einem Regenschirm.

Auch an ihrem 70. Geburtstag, für den Gudrun Boisseau mit ihrem Mann eigens aus Frankreich angereist ist, um gemeinsam mit Freunden und Familie bei ihrer Tochter Sylvie in Kreuzberg zu feiern, kommt sie nicht drumherum. Jeder will sie noch einmal hören, ihre deutsch-französische Liebesgeschichte. „Meine Schule hatte einen Schüleraustausch mit einer Schule aus Hamburg organisiert“, erzählt der in Paris aufgewachsene Michel Boisseau. „Wir sind durch die Bundesrepublik gereist und hatten vier Tage Aufenthalt in der DDR. Unser Schulleiter hatte Kontakt mit dem Direktor der Salzmannschule Schnepfenthal, die Oma damals besucht hat. Einige Schüler der Salzmannschule haben uns dann auf unserer Reise begleitet.“

Als die Mauer gefallen war, reiste das Ehepaar 1990 nach Berlin und ließ sich in der Nähe des Brandenburger Tores fotografieren.

© Mike Wolff/privat

Am 17. August besuchten sie die Wartburg. Es sollte regnen und Gudrun Thiel hatte einen Schirm dabei, den ihre Oma ihr mitgegeben hatte. „Das war wohl Schicksal“, erzählt Gudrun Boisseau ihrem Enkel. „Noch heute sehe ich deinen Opa vor mir. Er hatte einen total verwaschenen Anorak an, mit einem großen Tintenfleck, weil sein Füller ausgelaufen war. Und außerdem ist er gestolpert, seine Schuhsohle war kaputt.“ Damals dachte sie, Michel sei ein Sohn der Arbeiterklasse. „In der DDR sollten wir ja immer solidarisch mit den Ärmsten sein, da habe ich ihm meinen Schirm angeboten, weil er total nass war, und dann hat er mich für den Rest der Reise nicht mehr aus den Augen gelassen.“ Sie waren 16 und blieben seit diesem Tag zusammen. Als Michel zurück nach Paris ging, schrieben sie sich Briefe. „Meine Eltern waren nicht begeistert von dieser Verbindung, deswegen hat er die Briefe an meine Schulfreundin Monika geschickt.“ Monika hat Liebesbotin gespielt.

Auf der Wartburg lernten sich Gudrun Thiel und Michel Boisseau 1961 kennen und lieben.

© Mike Wolff/privat

1963 kam Michel Boisseau zurück nach Thüringen, 1964 zog Gudrun Thiel nach Ost-Berlin, als sie an der Kunsthochschule in Weißensee aufgenommen wurde. Luciens Großvater bekam ein Visum für die DDR und arbeitete bei Tiefbau Berlin, obwohl er dafür eigentlich keine Genehmigung hatte. Nur vier Monate blieb Gudrun an der Kunsthochschule, sie wollten heiraten und nach Paris ausreisen. Mit dem Abbruch des Studiums verfiel ihre Aufenthaltsgenehmigung für Ost-Berlin; sie lebte dort illegal. „Für ihre Hochzeit mussten Oma und Opa lange kämpfen“, erzählt auch Luciens Schwester Lily. „Die Behörden wollten die Hochzeit und die Ausreise nicht genehmigen.“ Immer wieder waren sie beim Standesamt, vor Gericht, beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Gudrun Boisseau sprach sogar mit Lotte Ulbricht, Ehefrau von Staats- und Parteichef Walter Ulbricht. Gudrun traf sie in der „Buchhandlung für die Frau“ Unter den Linden, wo sie arbeitete, erzählte ihr von ihrer geplanten Hochzeit, dachte, sie werde ihr helfen. Lotte Ulbricht antwortete nur: „Wenn wir Frauen etwas zu sagen hätten, dann sähe die Welt anders aus.“

Als ihre Hochzeit 1966 endlich genehmigt wurde, machte Gudrun Thiel für ihren Mann ein Erinnerungs-Album. Auch ihre Kennenlern-Geschichte ist darin abgebildet.

© Mike Wolff/privat

Für seine große Liebe hatte Michel Boisseau schon überlegt, in die DDR zu ziehen. Als sich Gudrun Thiels Vater brieflich für die Hochzeit seiner Tochter bei den örtlichen Behörden und der SED einsetzte, kam am 13. Mai 1966 per Telegramm die Erlaubnis zur Ausreise und Heirat. „Warum sie es letztlich genehmigt haben, weiß ich nicht“, sagt Gudrun Boisseau. „Aber das war ein schöner Tag.“ Fünf Jahre nach ihrem Kennenlernen, am 17. August 1966, heirateten Luciens Großeltern, reisten später nach Paris aus. Dort kamen ihre beiden Töchter zur Welt.

Den Mauerfall verfolgten die vier vor dem Fernseher. „Reisefreiheit! Keine Mauer mehr! Wer hätte sich das vorstellen können! Wir haben vor lauter Freudentränen Hochwasser im Keller. Ihr freut Euch, weil Ihr reisen könnt. Und wir, weil wir Euch endlich bei uns empfangen dürfen“, schrieb Gudrun Boisseau an Freunde und Verwandte. Dann lud sie alle zur Silvesterfeier 1989/90 nach Paris ein.

„Jetzt war die Familie Boisseau in eiliger Vorbereitung, genügend Betten für die 25 alten Freunde und Verwandten zu organisieren. Sie blieben eine Woche bei meinen Großeltern Gudrun und Michel und machten den größten Trabikorso aller Zeiten auf der Avenue des Champs Élysées“, schreibt Lucien in seinem Aufsatz. Viele Anregungen dafür hat der Elfjährige aus einem Album bekommen, das seine Großmutter ihrem Mann zur Hochzeit geschenkt hatte. Darin hat sie ihre Geschichte verewigt – mit selbst gezeichneten Bildern, Postkarten, Fahrkarten, die sie aufgehoben hat und vielen Fotos. „Es sollte etwas sehr Persönliches sein, das uns an diese schöne, aber auch schwere Zeit erinnert“, sagt Luciens Oma zu ihrem Mann. Und Michel Boisseau sieht seine Frau an und sagt: „Meine Gudrun.“ Verliebt wie 1961.

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