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Berlin: Nach Risiken und Schmerzensgeld fragen Sie…

…die Krankenkassen. Denn die können auch anders – nämlich kostenlos helfen, vor allem beim Verdacht auf Behandlungsfehler. Fast jede hat mittlerweile Experten eingestellt, die Kunden rechtlich beraten. Was sie können: ein Überblick

Im Büro von Sylvia Rogosch sieht es ein bisschen aus wie in einer Arztpraxis: In den Schränken liegen Röntgenbilder, außerdem Bein- und Zahnprothesen. Sie gehören Kunden der Versicherung. Sie haben nicht gepasst oder Schmerzen bereitet. „Die Prothesen muss sich ein Gutachter anschauen und dann beurteilen, ob der Arzt, der sie verordnet hat, einen Fehler gemacht hat“, sagt Sylvia Rogosch.

Sylvia Rogosch arbeitet bei der Barmer-Versicherung, in einem Büro in Berlin-Mitte, Kassenzentrale, fünfter Stock. Vier Kollegen sitzen mit ihr hier, und sie alle machen den gleichen Job. Sie sind die erste Adresse für Barmer-Versicherte, die sich als Opfer von Ärztepfusch fühlen. Hier können sie anrufen und ihre Geschichte erzählen. Gleich einen Rechtsanwalt einzuschalten, das wäre teuer – die Berater von der Barmer überprüfen also jeden Fall und sagen ihren Kunden am Ende, ob sich das lohnt. Denn nicht jedes Problem, das im Zusammenhang mit einem medizinischen Eingriff auftaucht, ist auch juristisch ein Behandlungsfehler.

Wie die Barmer bieten viele Krankenkassen ihren Versicherten mittlerweile kostenlose Unterstützung bei Behandlungsfehlern. Die AOK zum Beispiel hat allein für die Berliner Kunden ein Büro mit fünf Mitarbeiterinnen eingerichtet, oft gibt es aber auch eine zentrale Hotline, die deutschlandweit zuständig ist. Beispiel: die Siemensbetriebskrankenkasse (SBK).

Wer dort versichert ist und die Behandlungsfehler-Hotline wählt, landet im Büro von Kathrin Abele, Zimmer 30704 in einem Bürogebäude im Münchner Westend. Jeden Monat gehen in der Abteilung etwa 80 Anrufe ein – keine sehr hohe Zahl bei 670 000 Versicherten, aber: Die Tendenz ist steigend. Rund einem Viertel der Fälle geht die SBK dann weiter nach. Relativ häufig seien Fehler von Zahnärzten und Gynäkologen, sagt Abele. Bei Operationen im Körper vergessene Gegenstände seien fast schon „Klassiker“.

Etwa 170 000 Fehler begehen Ärzte in deutschen Krankenhäusern jedes Jahr. Das zeigt eine Studie, die das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ vor kurzem vorgestellt hat. Demnach wird bei einem Prozent aller Behandlungen gepfuscht. Als Behandlungsfehler gilt, was „vermeidbare, unerwünschte Ereignisse“ auslöst – also auch eine Handlung, die der Arzt unterlässt, obwohl sie nötig gewesen wäre. „Wir wollen dieses tabuisierte Problem an die Öffentlichkeit bringen“, sagt der Vorsitzende des Aktionsbündnisses, Matthias Schrappe. Natürlich müssen sich Ärzte heute um mehr Patienten in kürzerer Zeit kümmern. Oft wird aber einfach geschlampt. Schrappe empfiehlt den Medizinern etwa, ein kurzes „Team Time-Out“ zu nehmen, bevor sie das Skalpell ansetzen. Dann sollten sie sich noch einmal vergewissern: Ist das der richtige Patient? Wird er an der richtigen Stelle und mit sauberem Besteck operiert?

Ärzte genießen noch immer das höchste Ansehen unter allen Berufsgruppen. Eine Studie der Techniker Krankenkasse ergab, dass jeder fünfte Deutsche vermutet, schon einmal Opfer eines Behandlungsfehlers geworden zu sein – über die Hälfte der Menschen hat diesen Verdacht aber nie gemeldet. Auch, weil die Leute glaubten, gegen die Ärzte ja doch keine Chance zu haben.

Wenn die Abteilung Behandlungsfehler den Eindruck hat, dass rechtlich verfolgt werden kann, was schief gelaufen ist, bekommt der Patient spezielle Unterlagen zugeschickt. In einem „Gedächtnisprotokoll“ muss er seinen Fall genau schildern und den Arzt außerdem durch eine Unterschrift von der Schweigepflicht entbinden – nur dann kann die Kasse an die Akten des Mediziners kommen. Problem: Zur Herausgabe der Daten ist der zwar verpflichtet, zwingen kann ihn aber erst ein Gericht. „Das Verhalten der Ärzte ist sehr unterschiedlich. Die Mehrheit ist kooperativ, Einzelne stellen sich aber auch quer“, sagt Sylvia Rogosch. Ein Gutachter vom Medizinischen Dienst, der für alle gesetzlichen Krankenkassen zuständig ist, überprüft schließlich die dokumentierte Behandlung, vergleicht sie mit der Sicht des Patienten. Am Ende gibt die Kasse ihrem Kunden eine Empfehlung: Ja, eine Klage hat Aussicht auf Erfolg – oder eben nicht. Oft kommt es mit Hilfe der Kassen zu einer außergerichtlichen Einigung. Die Beratung kostet übrigens nichts. Die Kassen sprechen von werbewirksamem Service. Aber natürlich dürfte auch eine Rolle spielen, dass sie sich bereits an die Ärzte gezahltes Geld zurückholen können.

Wenn der Patient beschließt, vor Gericht zu ziehen, muss er seinen Anwalt selbst bezahlen. Die Summe, die er letztlich erstreitet, lässt sich schwer vorhersagen. In der SBK-Broschüre heißt es, für eine fehlgeschlagene Sterilisation könne man 500 bis 5000 Euro, für im Körper zurückgelassene Fremdkörper 2000 bis 15 000 Euro Schmerzensgeld bekommen. Bei Geburtsfehlern liegt die Spanne sogar zwischen 10 000 und 500 000 Euro. Von Vorteil für den Versicherten ist, wenn auch die Kasse Schaden erlitten hat und selbst klagt. „In unserem Windschatten haben die Patienten bessere Chancen vor Gericht“, sagt Hermann Bärenfänger von der Techniker Krankenkasse, die sogar ein Tag und Nacht besetztes Ärztezentrum eingerichtet hat, bei dem sich Kunden medizinisch informieren können.

Zwei „drastische Fälle“ habe sie in den vergangenen Jahren bearbeitet, erzählt Kathrin Abele von der SBK. Einem Mann wurde, weil die Ärzte seine Blutgruppe verwechselten, die falsche Niere eingepflanzt. Er war in großer Gefahr, konnte aber gerettet werden. Krankenkasse und Patient klagten, beide bekamen nach über vier Jahren Recht. Auch im zweiten Fall siegte der Patient vor Gericht: Bei einer Vorsorgeuntersuchung hatte der Arzt die Frau nicht richtig abgetastet und eine Geschwulst übersehen. Sie bekam 200 000 Euro Schmerzensgeld. Die Krebserkrankung aber konnte nicht mehr gestoppt werden. Die Frau starb.

Natürlich, sagt Kathrin Abele, seien das Extremfälle. Patienten rät sie: „Gehen Sie als mündiger Bürger zum Arzt, lassen Sie sich beraten und fragen Sie genau nach.“

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