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Malek Alloula (1937-2015)

© Susanne Stemmler

Nachruf auf Malek Alloula (Geb. 1937): „Was wollen Sie mit dem Stein?“

Oran - Paris - Berlin. Das wechselvolle Leben eines Dichters, dem die Sprache seiner Eltern zur "Phantomsprache" geworden ist

Da ist das Buch, das einzige im Haus der Eltern, ein Bildband über das zerbombte Berlin, durch das er immer wieder blättert. Oder das Fest zu Hause, die Tante, die ihn hochhebt, mit ihren starken Armen an sich presst und dem Jungen einen Schrecken einflößt: „Ich esse ihn auf, den Kleinen! Ich verschlinge ihn roh, bei lebendigem Leib!“ Alle lachen, es ist ein großer Spaß, der Kleine aber wird die Szene immer und immer wieder träumen, ein riesiger Mund mit Reißzähnen stößt in der Nacht die Drohung aus: „Ich fresse ihn auf, ich esse ihn roh, bei lebendigem Leib!“

Die Bilder stammen aus einer Zeit, in der dieser Junge, Malek, noch in Algerien, in Oran, lebte. Wo arabisch gesprochen wurde, er aber eine französische Schule besuchte, lesen und schreiben also auf Französisch lernte, ihm das Arabische zur Fremdsprache wurde. Denn Algerien gehörte in Maleks Kindheitstagen zu Frankreich, war die Weiterführung der französischen Republik auf der Seite jenseits des Mittelmeeres. Was für die algerische Bevölkerung Verlust bedeutete. Verlust ihrer Wurzeln, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Menschen wurden enteignet, vertrieben, umgesiedelt, verloren ihre Wirtschafts- und Lebensweise, die Nuancen und den Glanz ihrer Sprache. Selten erwies sich der Verlust auch als Gewinn. Malek begann, in den Worten der Kolonialherren zu dichten.

Es war ihm gelungen, bis in das auf Machterhalt der oberen Klassen ausgerichtete System der Grandes Écoles, der Eliteschulen, vorzudringen, hatte die ENS absolviert und dann Literatur an der Sorbonne in Paris studiert, wo er seit den 60er Jahren lebte und als Verlagslektor arbeitete. Er war ein französischer Intellektueller geworden.

Einer, der die Erinnerungen an seine algerische Kindheit zu Poesie verdichtete, in virtuosem Französisch, durch das hindurch er das Arabische scheinen ließ, seine „Phantomsprache“. Wobei er sich ausdrücklich gegen die Funktionalisierung der Literatur zu politischen Zwecken aussprach. Auch noch, nachdem sein Bruder Abdelkader Alloula, ein Theaterregisseur, 1994 von Islamisten umgebracht worden war. Ohne Pathos, ohne süßliche Nostalgie beschrieb er vergangene Momente, um dann über das Private hinauszugelangen und ein kulturelles Gedächtnis zu formen: in „Festmahle des Exils“ die Tante, die ihn verschlingen wollte, als Schlüsselszene; der Akt des Essens, seine banale Seite und seine existenzielle; die Beschreibung der „Braseros“, Schmortöpfe, die Maleks Mutter mit größter Sorgfalt behandelte, und die Scherben, wenn doch einmal einer zerbrach, „wie wertvolle Familiengebeine, lange aufbewahrte“; das Ritual der Zubereitung von Kartoffelragout mit wilder Minze, der Duft von Safran und rotem Pfeffer; die Frauen, die wie Priesterinnen das Feuer hüteten; die Zeit, die dabei anhielt.

Und dem Sanften gegenüber die Gewalt: „Es kam mir so vor und es kommt mir immer noch so vor, allerdings in etwas weniger dramatischer Weise, als ob das Universum, die Welt und das Leben ein einziger Prozess von Nahrungsaufnahme und Verdauung seien, ein unendliches wechselseitiges Verschlingen.“ Sein Bild- und Essayband „Haremsphantasien. Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit“. Darin Fotopostkarten von halb bekleideten Frauen in verlockenden Posen, entstanden in den 20er Jahren in Algerien, Grüße französischer Soldaten nach Hause. Malek untersuchte die Bilder in seiner poetischen Sprache, die Verfügbarkeit der exotischen Frauen, deren Sinnlichkeit auf das Gemüt westlicher Männer betörend wirkt und gleichzeitig abschreckend, weil es die Vorstellung von Vernunft und Ordnung untergräbt.

Und Berlin, die Bilder der zerbombten Stadt. „Ein starkes emotionales Band knüpfte mich fortan auf unerklärliche, aber sehr intensive Weise – diffus und geradezu physisch an Berlin, an die Vorstellung von Berlin.“ 2014 erhielt er eine Einladung vom Akademischen Austauschdienst, arbeitete an einem Gedichtzyklus „Da kommt in diesen Tagen (Aufziehende Wetter)“, schrieb die Poeme auf Pflastersteine, die er während seiner Spaziergänge durch die Stadt auflas, einen davon vor dem Schloss Bellevue, was die Sicherheitsbeamten aufschreckte: „Was wollen Sie mit dem Stein?“ Er hätte sagen können: „Ich schreibe Gedichte darauf und möchte sie dann in Form einer 69 anordnen, denn die 69 war damals, als ich auf eine französische Schule in Algerien ging, die Nummer, die man mir gab.“ Er sagte das nicht, sondern legte den Stein wieder zurück und spazierte weiter, vielleicht ins Kempinski auf einen Aperitif oder zu seinem deutschen Freund. Dann aßen sie etwas und tranken Rotwein und sprachen, über Frauen, über Politik und Poesie, über die Vergangenheit.

Hier, in Berlin, entdeckte man einen Tumor in seinem Kopf. Er wollte nach Paris, der Platz im Flugzeug war bereits reserviert, aber der Arzt sagte: „Er wird sterben.“

Parfois un ciel bas pesant / et éteignant toute lumière autour de lui. – Manchmal breitet sich schwer ein tiefer Himmel / der alles Licht im Umkreis löscht.

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