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Nachruf auf Martin Chalmers (Geb. 1948): Das Leben ist ein mutiger Traum

Martin Chalmers ergriff schon im Alter von sechs Jahren seine beiden späteren Berufe: Übersetzer und Historiker. Seine Glasgower Kindheit trug das Gesicht der Großmutter aus dem ostpreußischen Masuren und würde es immer behalten.

In wen hatte sich seine Mutter eigentlich verliebt? In seinen Vater oder in den Angehörigen der britischen Besatzungsmacht, der im Volkswagen mit eigenem Chauffeur vorfuhr, im Nachkriegsdeutschland, in der schwierigen Zeit?

Martin wurde 1948 in Bielefeld geboren, die junge Familie ging bald nach Glasgow. Männern mit eigenem Chauffeur kann man überallhin folgen, zumal in der schwierigen Zeit. Und dann kam die Stunde der Erkenntnis: Der Mann, den die höhere Berliner Tochter geheiratet hatte, war offenbar, wie sollte sie das nur sagen, er war also unbestreitbar und somit wohl auf eine ungute Weise dauerhaft: ein Angehöriger der Arbeiterklasse. Setzer in einer Glasgower Druckerei. Proletariat! So deutlich hatte sie das vorher nie verstanden.

One-room-and-kitchen. Da würden sie nun wohnen. Zu dritt. Die höhere Tochter erschauerte. Höher? Die Herkunftsbezeichnung ist nicht ganz präzise, denn Gertrude Post war mehr eine Tochter mit Ambitionen zum Höheren. Ihre Eltern kamen aus Ostpreußen, der Vater wurde Hausmeister bei einer Charlottenburger Familie mit eigenem Chauffeur und eigener Villa. Mit deren Kindern spielte Gertrude, mit ihnen wuchs sie auf, gewissermaßen in einer Zwischenwelt, die vielleicht nicht ganz geerdet war, ganz und gar nicht geerdet, doch schien ihr das kein Grund, sie zu verlassen.

Zum Schisma der Eheleute Chalmers, wohnhaft in Glasgow, one-room-and-kitchen, kam es anlässlich von Martins Einschulung. Nie und nimmer geht ihr Sohn mit den etwas gröberen Kindern der etwas gröberen Leute in eine Schule der Jedermanns, teilte Gertrude Chalmers ihrem Proletarier-Mann mit. Martin besucht eine Public School! Punkt.

Jetzt musste sie das nur noch finanzieren. Gertrude Chalmers beschloss Lehrerin zu werden und besuchte ab sofort das Jordonhill Teacher Training College. Englisch musste sie ohnehin lernen, warum sollte sie es anderen dann nicht gleich beibringen? Schließlich kommt es nicht darauf an, wie eine Sprache klingt; auf die Regeln kommt es an, und in Gertrude Chalmers’ Aussprache klangen die Regeln gewissermaßen schon durch.

Als Martin fünf war, kam die Großmutter aus Berlin, denn jemand musste auf den Jungen aufpassen, während seine Mutter studierte. Helene Post sprach kein Wort Englisch und war im Übrigen der Ansicht, dass sie viel zu alt war etwas Neues zu lernen, geschweige denn eine ganze Sprache. Wozu auch? Sie hatte ihren Enkel. Und so kam es, dass Martin Chalmers im Alter von sechs Jahren seine beiden späteren Berufe ergriff: Er wurde Übersetzer und Historiker. Seine Glasgower Kindheit trug fortan das Gesicht der Großmutter aus dem ostpreußischen Masuren und würde es immer behalten.

Der Junge ahnte bald, das mit den Bäumen um Glasgow etwas nicht stimmte, deshalb fragte er jedes Mal, wenn sie in den Wald gingen: Ist das der Wald? – Und seine Großmutter antwortete: Nein, das ist kein Wald! Es lag eine Bestimmtheit in dieser Mitteilung, die ihn davon überzeugte, dass sie recht hatte. Das Glasgower Kind lernte die Welt mit den Augen einer alten Frau aus Ostpreußen zu sehen, eine Fähigkeit, die er nie verlieren würde. Es ist der notwendig fremde Blick des Historikers.

An den grauen verregneten Sonntagen, von denen es so viele gab in Schottland, gingen Helene Post und Martin Chalmers am liebsten in „Wendy’s Tea Room“ und dann ins Kino, auch war die Wohnung gleich viel geräumiger, wenn zwei der vier Bewohner weg waren. Sie gingen entweder ins „Ascott“ oder ins „Odeon“. Sie sahen Western, unmögliche britische Komödien, Operetten, auch Kriegsfilme. Ob es „Der Untergang der Bismarck“ war oder „Zehn Tage, um zu sterben“ über Hitlers letzte Tage im Bunker der Reichskanzlei: Martin übersetzte alles, simultan. In den Nachmittagsvorstellungen saßen vor allem ältere Leute, wahrscheinlich waren viele Schwerhörige darunter, es kam nie zu Tumulten oder anderen Feindseligkeiten.

Seine Mutter wusste, was aus ihrem Public-School-Sohn werden sollte: Rechtsanwalt! Aber Martin Chalmers erklärte, dass er Geschichte statt Jura studieren würde, er habe keine Wahl, seine Neigung zwinge ihn.

So studierte er erst in Glasgow, dann in Birmingham. Bis er schließlich mit einem Oxford-Doktorandenstipendium nach Bochum ging, um dort die mündlichen Überlieferungen der Arbeiterklasse zu erforschen. Die von Glasgow kannte er schon, es handelte sich gewissermaßen um vergleichende Geschichtswissenschaft. Gertrude Chalmers missbilligte den Forschungsgegenstand ihres Sohnes aus ganzem Herzen.

Der Doktorand schloss die Arbeit nie ab. Das hatte mehrere Gründe. Der wichtigste: Eine Dissertation hat einen Anfang und ein Ende, im Gegensatz zur Geschichte, die ihrem Wesen nach unendlich ist. Die Verlegenheit, Anfänge und Schlüsse zu finden, würde er künftig anderen überlassen. Das ist das Privileg des Übersetzers.

Chalmers war weit entfernt, das Übersetzen als simple Erwerbstätigkeit zu begreifen, denn dazu ist es viel zu intim. Ein Text, den er übersetzen sollte, musste ihm entgegenkommen.

Es näherten sich fast immer solche, deren „distinctive style often seems to resist going into english“, wie ein Kollege Chalmers’ das einmal formulierte. Alexander Kluge zum Beispiel. Robert Walser. Elfriede Jelinek. Hans-Magnus Enzensberger. Schon deren eigene Prosa war gewissermaßen eine Übersetzung aus dem Deutschen. Unnötig zu sagen, dass die Bücher, die Chalmers übertrug, nie bestsellerverdächtig waren. Umso mehr schätzte er den kleinen indischen Verlag Seagull, der sie mit bibliophiler Leidenschaft publizierte.

Auf einer Londoner Sommerparty des britischen Übersetzerverbandes begegnete er einer schmalen Frau, die wusste, was sprachliche Weltenwechsel bedeuten. Die Dichterin und Autorin Esther Kinsky überträgt zumeist russische und polnische Autoren ins Deutsche, das ist auch nicht leichter. Sie sprachen das ganze Fest durch, und da sie an seinem Ende noch lange nicht fertig waren, trafen sie sich wieder und sprachen weiter. Darüber vergingen die Jahre, in ihren Redepausen arbeiteten beide. Esther Kinsky ärgerte sich durchaus über diesen Mann. Hatte er nicht ein viel zu gutes, fast romantisches Bild von Deutschland? Sogar der Ruhrgebietspunk gefiel Martin Chalmers besser als der Inselpunk.

2004 erschienen Victor Klemperers Tagebücher auf Englisch, Übersetzer und Autor der Einführungsessays: Martin Chalmers. Für den zweiten Band „The lesser evil“ bekam er den Tieck-Schlegel-Preis.

Im Jahr darauf stand Esther Kinsky in einem weltentlegenen ungarischen Dorf im Banat vor einem kleinen Haus, das sie fragte, ob sie nicht einziehen wolle. Anders konnte sie sich auch später die leicht aberwitzige Tatsache nicht erklären, dass sie 1300 Kilometer entfernt von Berlin ein Haus kaufte. Martin Chalmers und Esther Kinsky waren sich bald einig, was hier zu tun war. Sie würden gemeinsam übersetzen und eigene Bücher schreiben und abends würden sie ins Kino gehen, und zwar in ihr eigenes.

Sie liebten dieselben Filme, etwa die des Ungarn Bela Tarr. Es waren Werke, die genau wie die Geschichte streng genommen keinen Anfang haben und auch keine Ende. Das machte sie Chalmers vertrauenswürdig. Es kam darauf an, Battonya, das kleine Dorf kurz vorm Weltende, an die Avantgarde des Weltkinos anzuschließen. Der ungarische Filmverleih erkannte sofort die Größe seiner Aufgabe und doch mussten die Cineasten aufgeben, bevor sie all ihre Lieblingsfilme im eigenen Kino gesehen hatten. Die 4000-Watt-Projektorlampe war zu teuer. So scheitern die mutigsten Träume am Ende an der Stromrechnung.

Auch das Leben des Menschen ist ein mutiger Traum, und Martin Chalmers hatte nicht vor, sich darin stören zu lassen. Schon gar nicht von Missempfindungen seines Körpers. Vor zweieinhalb Jahren konnte ihn nur eine Notoperation retten. Der Krebs hatte gestreut. Ein ungarischer Neurochirurg, Virtuose seines Fachs, setzte ihm einen Halswirbel aus Titan ein. Der gab Martin Chalmers eine neue Frist. Sie reisten viel. In dem Masuren hatte der Enkel längst nachgesehen, ob seine Großmutter recht hatte mit dem, was sie über deren Wälder gesagt hatte.

Eine Anthologie literarischer Texte über Berlin wollte er noch herausgeben. Und mit seiner Frau gemeinsam ein Buch über die Krim schreiben, in Battonya.

Er hat es nicht mehr geschafft. Martin Chalmers übersetzte 2011 den ersten Roman seiner Frau, „Sommerfrische“, eine Battonya-Geschichte. Das Krim-Buch muss Esther Kinsky nun allein zu Ende schreiben, für sie beide. Das Berlinale-Programm dieses Jahres hat sie ihm aufs Grab gelegt.

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