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Berlin: Annette Schwarzenau (Geb. 1943)

Gegen die Hauben! Aus gesellschaftlichen wie ästhetischen Gründen.

Der 2. Juni 1967 ist ein strahlend schöner Freitag. Wenige Wolken ziehen am Himmel, das Thermometer steigt gegen Mittag auf 23 Grad. Annettes Eltern sind aus der westfälischen Provinz nach Berlin gefahren, ganz sicher nicht zum Demonstrieren. Trotzdem hatte die Mutter dem Vater noch zugerufen: „Pack die alte Hose ein!“

Der Schah von Persien und die schöne Farah Diba werden gegen Mittag von Bürgermeister Heinrich Albertz im Schöneberger Rathaus begrüßt. Auf dem Platz davor steht Annettes Vater, ein Beobachter der Szene. Trotz der alten Hose gibt er ein honoriges Bild ab. Ein grauhaariger Herr, aufrechter Christ und CDU-Bürgermeister des Städtchens Schwelm, derzeit zu Besuch bei seinen Kindern in Berlin. Er steht etwas abseits der begeisterten Anhänger des Herrscherpaares. Laut demonstrierende Studenten unmittelbar in seiner Nähe. „Schah, Schah, Scharlatan!“, rufen sie.

Als die Situation eskaliert und sogenannte Jubelperser mit Holzlatten in die Menge dreschen, mischt sich Annettes Vater ein: „Passen Sie mal auf! Sie sind hier in Deutschland, und diese Studenten haben das Recht zu demonstrieren. Nu’ packen Sie mal ihre Latten weg!“ Unter dem nächsten Schlag geht er selbst zu Boden. Zurück in Schwelm, schickt er, äußerlich zwar unverletzt aber innerlich schwer erschüttert, die goldene Ehrennadel der CDU zurück. Aus Protest „gegen dieses undemokratische Verhalten“ und dass „unsere deutsche Polizei“ nichts dagegen unternommen hat. Etwas später wird er zum Bürgermeister wiedergewählt, diesmal als Kandidat der SPD.

„Pack die alte Hose ein“, der Satz ihrer Mutter wird Annettes Schlachtruf, wenn es darum geht, sich einzumischen, gegen Konventionen zu rebellieren.

Sie ist das Nesthäkchen, jüngstes von vier Kindern. Sie wird geliebt – und unterschätzt. Die Geschwister sind nicht nur alle ein bisschen älter, sondern auch schneller, scheinbar gescheiter, irgendwie intellektueller. Im Gymnasium kann sie „Schillers Auffassung der heiligen Johanna nicht akzeptieren“. Der Lehrer hält zu Schiller und gibt Annette für den Aufsatz eine Sechs. Da ist die Sache für sie erledigt: Sie verlässt die Schule und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester.

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, singt Franz Josef Degenhardt. Der Liedermacher ist mit Annettes älterer Schwester befreundet und häufig bei der Familie zu Besuch. Nicht ganz unwahrscheinlich, dass mit den Schmuddelkindern auch eine Bande Jugendlicher um Annette und ihre Geschwister gemeint ist. Die Gruppe denkt sich absurde Aktionen aus und lacht über die Reaktion der örtlichen Autoritäten. Die Empörung schlägt Wellen, aber die jungen Leute sind begabt. Wer Talente hat, musizieren, spielen oder schreiben kann, ist nicht so leicht angreifbar. Meistens haben die Provokationen keine ernsten Folgen.

Annette wird Mutter, da ist sie erst 22 und schon verheiratet. Mit Ehemann Rainer und Sohn Philipp lebt sie in Tübingen. Privat geht es zwar sehr bürgerlich zu, sie arbeitet als Krankenschwester in einer Klinik, Rainer ist Optiker, aber beide engagieren sich in der Anti-Springer-Kampagne, bewegen sich im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und demonstrieren gegen den Vietnamkrieg. Zu Weihnachten 1967 überträgt das ZDF den Tübinger Festgottesdienst. Annette entrollt zum stimmungsvollen „Vom Himmel hoch“ ein Transparent von der Empore der Kirche: „Nur beten ist Mord“.

Dabei glaubt sie an Gott, vor allem an Jesus. „Das Schlimmste sind die Pharisäer, die fromm reden und nicht handeln“, hatte ihr Vater gesagt. Das Christentum und die Erziehung der Eltern sind Grund für die moralische Einstellung und ihren praktischen Mut. Aber Annette hat auch „einfach Lust darauf, etwas gegen Sauereien zu unternehmen, egal welcher Art auch immer“.

Die junge Familie zieht nach Berlin. Erstens, weil Revolution angesagt ist und Annette ganz nah dran sein möchte am Geschehen in der „Hauptstadt des Widerstands“ aber auch, und das ist genauso wichtig, weil es hier Betriebskindergärten gibt. Leider stellt sich schnell heraus, dass sie nur selten gut sind. Sohn Philipp ist in seinem todunglücklich. Wenn seine Mutter ihn mittags nach der Frühschicht abholt, findet sie ihn manchmal an einer Pritsche festgebunden. Sie hört, dass Kinderläden eingerichtet werden sollen. In Steglitz, wo sie wohnen, gibt es noch keinen, also gründen Annette und ihr Mann zusammen mit Freunden und Bekannten ihren eigenen. Den Mietvertrag müssen die berufstätigen Schwarzenaus unterschreiben, die meisten anderen Eltern sind noch Studenten.

Annette lebt sich ein im Berlin der Achtundsechziger, ist Steglitz-Delegierte im „Zentralrat der Kinderläden“, kämpft mit Erfolg gegen den Haubenzwang für Krankenschwestern – aus gesellschaftlichen wie ästhetischen Gründen: „Zwanzig Jahre Haube können die Haare ganz schön kaputt machen!“ Bei der „Schlacht am Tegeler Weg“ wirft sie zum ersten Mal mit einem gefärbten Ei. Sie tritt aber auch in die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ein und wird Personalratsvorsitzende der Abteilung Altenpflege. Annette macht, was sie für richtig hält und worauf sie Lust hat, das aber mit großem Pflichtgefühl.

Von den Theoretikern der Studentenbewegung lässt sie sich hofieren. Als schöne Frau, den Pony immer tief über den Augen, und echte Werktätige ist sie doppelt attraktiv. Trotz der sexuellen Revolution, die auch Annette als Befreiung erlebt, stellt sie eine gewisse Verklemmtheit bei manchem der wortgewaltigen Revolutionäre und Arbeiterführer fest. Sie liebt den Schlachtruf „Befreit die Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen“. Zur Frauenbewegung allerdings fühlt sie sich nicht sonderlich hingezogen. Zu theoretisch, zu viel Schwadroniererei. Später schreibt sie: „Mit diesem Aktionsrat zur Befreiung der Frau hatte ich nichts am Hut, außer dass ich Abtreibungen organisierte, so wie ich immer praktische Sachen machte.“

Auch Annettes Probleme sind ganz praktische. Wie bringt man Kind, Liebe, Beruf und ein gutes Leben unter einen Hut? Wie verbindet man Geborgenheit mit sexueller Freiheit? Sie lässt sich von ihrem Mann scheiden. Und heiratet ihn ein zweites Mal; Sohn Philipp hat es sich gewünscht.

Diejenigen, die man heute die Achtundsechziger nennt, gehen ganz unterschiedlich um mit der Zeit, in der sie jung waren und Geschichte machten oder wenigstens den Freunden dabei zusahen. Manche reden nur noch selten über die Jahre, manche viel zu oft. Es gibt welche, die mit ihrer historischen Rolle prahlen und andere, die sich distanzieren. Gemeinsam ist den meisten der ungeheure Ernst, den sie dabei in ihre Stimme legen. Annette Schwarzenau erzählte anders. Sie liebte „die Storys von damals“ und gab ihnen etwas Ungewohntes: Humor.

Sie konnte die Dogmatiker beschreiben, die immer genau wussten, was gut ist und was böse, die keine Widersprüche kannten, nie zweifelten und darum nicht klüger wurden. Solche gibt es zu jeder Zeit; Annette nannte sie „die Freunde des einfachen Weltbilds“. Sie wusste um die Schattenseiten der Revolte, ließ aber niemals zu, dass man das Resultat, eine offenere Gesellschaft, wegdiskutierte.

1985 wird Annette Schwarzenau zur ersten grünen Stadträtin Berlins gewählt. Sie ist für Gesundheit und Verkehr zuständig. Dass sie es zehn Jahre bleibt, grenzt an ein Wunder. Gleich zu Beginn schaltet sich der Rechnungshof ein, weil sie, alarmiert von den ersten Aids-Erkrankungen, gemeinsam mit ihren Mitarbeitern in Bordellen und auf dem Straßenstrich Kondome verteilt. Die „B. Z.“ fragt: „Stolpert Stadträtin über 80 000 Kondome?“ Sie stürzt nicht, sie eröffnet ein „Haus des Säuglings“, gründet die erste Berliner Altenberatungsstelle, und die Grünen wählen sie, allen Rotationsprinzipien zum Trotz, einfach immer wieder.

Zuletzt sind es die Alten, vor allem die dementen, denen ihre ganze Aufmerksamkeit gilt. Sie nimmt diese Menschen ernst – auch wenn sie sich kaputtlachen kann über deren subversives Potenzial. Sie entwickelt mit ihrem „Verein für selbstbestimmtes Wohnen im Alter“ ein Konzept für Wohngemeinschaften, in denen Menschen mit Demenz in Würde leben und gepflegt werden.

Annette Schwarzenau ist selbst nicht alt geworden. Sie hat nie Habermas oder Marcuse gelesen, aber sie war eine Achtundsechzigerin mit Mut, Herz und Lust am praktischen Tun. Einer der dabei war und vor vierzig Jahren viel weiter vorne auf den Barrikaden stand, sagt: „Eigentlich hat sie uns alle in den Schatten gestellt.“ Sebastian Rattunde

Sebastian Ratt, e

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