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Berlin: Bernd Weitemeier (Geb. 1942)

Dieses bürgerliche Leben passte einfach nicht zu ihm

Das mit dem Juweliergeschäft war eine dumme Aktion, weil bei der Flucht durchs Toilettenfenster einer aus Bernds Bande ausgerechnet auf die Klospülung treten musste. Das Wasser rauschte, jemand hörte es, und sie flogen auf. Polizei, Richter, Urteil. Ein Jahr später war das Gefängnis fertig mit Bernd und spuckte ihn zurück ins Leben. Doch zum Glück wartete dort Bruder Hans, der ihm die Hand reichte und wieder aufhalf. „So geht’s nicht weiter, ich hab’ Arbeit für dich organisiert, du gehst nach Düsseldorf.“

So waren sie, seine vier Brüder und seine Schwester. Wenn es arg wurde, waren sie füreinander da, die Trümmerkinder, die sich in ihrem Kiez rund um die Kohlfurter Straße in Kreuzberg durchschlagen mussten. Der Vater, von Beruf Technischer Zeichner, war nach seiner Kriegsgefangenschaft nicht zur Familie zurückgekehrt. Er ließ sie einfach sitzen, die Mutter mit ihren sechs Kindern in der winzigen Wohnung mit dem Klo auf halber Treppe.

Wenn das Nagen im Bauch unerträglich wurde, gingen sie bei den Bauern im Berliner Umland auf Hamstertouren. Für die Mutter sammelten sie noch rauchbare Zigarettenstummel von der Straße auf. Und Bernd, der Kleinste und Jüngste, lief immer hinterher. Die Geschwister passten gut auf ihn auf, doch um so etwas wie Erziehung konnten sie sich nicht auch noch kümmern. Erst mit fünf begann er zu sprechen. Die Not hielt sie zusammen, jeder kochte, jeder kümmerte sich, auch mehr und mehr um die kranke Mutter.

Statt in der Volksschule zu lernen, zog es Bernd zu den Kinderbanden und zu den Halbstarken auf die Straße. Sie trugen enge Jeans, hatten Entenfrisuren und hörten Jazz und Rock ’n’ Roll. Immer wilder wurden die Sachen, die sie machten – bis alles mit der Klospülung im Juwelierladen endete. Bernd der Panzerknacker war sein Spitzname aus diesen Jahren.

In Düsseldorf lief es gut, er traf ein Mädchen, das er mit der gemeinsamen Tochter nach Berlin lotste. Doch so sehr er es vielleicht auch wollte, dieses bürgerliche Leben passte einfach nicht zu ihm. Statt Windeln zu wechseln, war er auf Achse und schmuggelte Hochprozentiges im Rückbankpolster eines Käfers von Flensburg nach Dänemark. Sein erster Familienversuch ging in die Hose, und Bernd war wieder allein. Diesmal war es Bruder Herbert, der ihm wieder aufhalf. Herbert war Maler und holte ihn und zu sich nach Frankreich an die Côte d’Azur.

Es war wundervoll und unbeschwert. Abends zogen sie durch die Restaurants von Cannes und verkauften reichen Touristen Herberts Bilder. Alles ganz einfach, frei und unkompliziert, dazu der Strand und die Frauen, die einen waren reich, die anderen schön. Bernd aus Berlin mit den dunkelblonden Haaren und den schönen Augen, mit Witz und Ausstrahlung, flirtete mit allen. Es war ein einziges Abenteuer. Bis er sie traf, die eine. Michelle hieß sie. Sie heiraten in Paris.

Und wieder kehrte Bernd mit einer Frau und einem Kind nach Berlin zurück. Bruder Werner verschaffte ihm eine ordentliche Arbeit in der Chemo- und Metallografie. Bernd verdiente ordentliches Geld und begann Kunstwerke in Kupferplatten zu ätzen und sie zu verkaufen. Aus Panzerknacker-Bernd war Kupfer-Bernd geworden.

Doch West-Berlin war nicht Paris, erst recht nicht die Côte d’Azur, und Bernd lag der Alltag einfach nicht. So waren Michelle und seine Tochter eines Tages einfach weg, die Sachen gepackt, die Zimmer leer, niemand mehr da, nur Bernd, allein.

Wo sie hin waren wusste er nicht, nach ihnen suchen wollte er auch nicht. Anstatt im Kummer zu ertrinken, feierte Bernd mit Bruder Herbert rauschende Atelierfeste. Ihm musste er nicht erklären, warum er war, wie er war. Warum er Konflikten aus dem Weg ging und zu Verabredungen nicht kam. Warum er manchmal einfach weg war, nicht ans Telefon ging und nicht die Tür öffnete. Wenn er wieder auftauchte, wie der Phoenix aus der Asche, war er fröhlich und lachte. Dieses laute Lachen, fast meckernd, war sein Markenzeichen.

Er arbeitete als Betonarbeiter, in der Gastronomie, er saß noch mal in U-Haft, weil er vergessen hatte, die Alimente für seine erste Tochter zu zahlen.

So war er eben. „In mir habt ihr einen, auf den ihr nicht bauen könnt“, zitierte er Brecht. Und die treuen Freunde hielten dennoch zu ihm. Auch seine Neffen und Nichten, die ihn dafür liebten, dass er sie ernst nahm und dass er so speziell war, anders als alle anderen.

Zuletzt wurde er ruhiger, interessierte sich für Philosophie, las. Er wollte sich und die Welt verstehen. Wenn man ihn besuchte, kochte er so viel, dass man immer noch was mitbekam. Oder er verschenkte Wundertüten, gefüllt mit kleinen Unsinnigkeiten.

Als seine zweite Tochter ihm in einem Brief schrieb, dass er Großvater sei, überlegte er lange, ob er antworten sollte. Er hat es nicht getan.

Als seine Lunge anfing zu schmerzen, wollte er nicht wissen, was es war. Zum Abschied kamen alle noch einmal zusammen. In einer Bar stießen sie auf Bernd an, auf sein Leben.

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