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Berlin: Evelyne Hoffmann (Geb. 1952)

Der Mangel an Komfort versüßte die Liebe erst recht.

Groß, schlank, mit kräftigen Handballerarmen tauchte Klaus an der Uferböschung auf und blickte hinunter zum Anleger. Da stand sie: Evelyne, zart, klein, anmutig, in einem leuchtend blauen Mantel. Eigentlich wollte sie an diesem warmen Vorsommerabend zu Hause bleiben und lesen, aber ihre Schwester hatte sie überredet mitzukommen.

Die Mondscheinfahrt ging zum Wannsee hinaus. Erst setze sich Klaus unauffällig in ihre Nähe, dann forderte er sie zum Tanzen auf. Sie wirbelte ihn über das Schiffsdeck, er gab ihr einen Kuss. Wenn sie mir jetzt eine knallt, hab ich eben Pech gehabt, dachte er.

Einen Knall gab es – in ihrem Herzen.

„Was willst du denn mit einem Maurer?“, fragte ihre Abiturientenclique. Evelyne ließ sich nicht beirren: „Wenn mich einer auf Händen trägt, dann er!“ Klaus gehörte nicht zu denen, die auf dem Bau die Kronkorken schnalzen ließen. Er vernachlässigte sogar seine Handballkameraden, um mit Evelyne ins Ballett und zum Spazieren in den Schlossgarten zu gehen. Evelynes Mutter wiederholte nur das eine: „Mach mich bloß nicht zur Oma!“ Nur ihr Opa freute sich. Er war selbst mal Maurer.

Als sie Klaus erzählte, dass sie Stewardess werden wolle, verwandelte sich das Kribbeln in seinem Bauch schlagartig in ein flaues Gefühl. Zum Glück maß Evelyne 159,7 Zentimeter, 0,3 zu wenig für Pan Am. So nahm sie ein Studium der Rechtspflege auf und bezog mit Klaus ein Zimmer in Schöneberg. Ein schmales Bett, ein wackliger Tisch, ein Badezimmer für acht Untermietparteien: Der Mangel an Komfort versüßte die Liebe erst.

Im Amtsgericht machten ihr zwei ältere Kollegen und der Dienststellenleiter das Leben schwer. Sie, engagiert und geflissentlich, verstand unter Vormundschaftspflege etwas anderes als nur Unterschriftenleisten. Man müsse seine Schützlinge wenigstens mal kennenlernen, sie zum Beispiel im Heim besuchen, um über sie zu befinden. Ihr Engagement überforderte die Herren. Dass die Neue zusätzlich ein paar Stunden in der Woche als Dozentin unterrichtete, erschien ihnen ebenso verdächtig.

Ein Bandscheibenvorfall jagte den nächsten. Kuren, Gymnastik, schmerzhaftes Aushängen und die wundersamen Hände von Toni, dem Physiotherapeuten aus Ischia – alles half am Ende nichts gegen den bürokratischen Starrsinn: Mit 36 Jahren wurde sie gegen ihren Willen frühpensioniert und fiel in ein tiefes Loch. Selbst die langen Wochenenden im Dornröschenschloss im Reinhardswald, in das sie mit Klaus so gern gefahren war, lockten sie nicht mehr.

Erst mit „Praxis Bülowbogen“ kamen ihre Lebensgeister zurück. Klaus, der nicht nur Wäsche wusch, die Einkäufe erledigte und ihr größter Kleiderlieferant war, meldete sie als Filmkomparsin an. Schon immer hatte sie sich gern fotografieren lassen. „Evelyne kommt nicht, sie erscheint“, hatte ihre Mutter mal gesagt. Die Produzenten beim Film wussten, was sie an Evelyne hatten. Für jeden Auftritt besaß sie die passenden Kleider. Gern wurde ihr champagnerfarbener Mercedes 190 gleich mitengagiert. In „Das Schwein“ mit Götz George sieht man sie in einem lila Kleid die Balltreppe herunterkommen, alle anderen tragen Schwarz.

Als ein befreundeter Fotograf sie fragte, ob sie Modell für ihn stehen wolle, war es, als riefe die „Vogue“ sie an. Aus einer ersten Studiosession wurde eine jahrelange Porträt-Obsession. Tausend Rollen, in die sie schlüpfte, von der Königin von Saba bis zur italienischen Diva, und immer zeigte sie ihr zartes Evelyne-Lächeln: Ein Hauch Greta Garbo mit einem Schuss Sibylle Canonica.

Und sie porträtierte selbst: Robert Lebeck, Helmut Newton, Wim Wenders, Jim Rakete … Die Liste der Künstler, die sie fotografierte, füllt zwei Seiten. War auf einer Vernissage der Bildhunger der blitzenden Reportermeute gestillt, fragte sie den Künstler höflich, ob sie ein Bild machen dürfe. Vier Abzüge schenkte sie dem Porträtierten, vier weitere ließ sie sich signieren.

Sie rauchte so gern und wollte doch damit aufhören: Akupunktur, Schwachstromtherapie, der Wille allein – vergeblich. Erst ein erschreckender Befund ließ sie von der Sucht fortkommen. Zu spät. Erst verlor sie ihren Kehlkopf, dann wurde die Speiseröhre entfernt. Infolge einer aggressiven Strahlentherapie riss eine Halsschlagader. Wie ein Wunder überlebte sie auch dies.

Ihr Lebensmut war unerschütterlich. Jahre der Angst, Monate der Entbehrungen, Operationen in unbegreiflicher Folge und Ausführung – nie gab sie die Hoffnung auf, mit Klaus’ Hilfe den Krebs zu besiegen.

Der Arzt versprach, sie würde keine Schmerzen leiden. Sie hatte entsetzliche Angst vor dem Ersticken. Als sie kaum noch Luft bekam, gab er ihr ein Beruhigungsmittel. Klaus war bei ihr. Ihre Atemzüge wurden schwächer und schwächer, bis sich die Zeit ins Unendliche dehnte.

Keine Nacht in all den Jahren, in der sich ihre Hände nicht berührt, in der sie sich nicht im Schlaf gespürt hätten. „Wir mit unserer Liebe schaffen das“, hat sie zu ihm gesagt. Stephan Reisner

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