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Berlin: Fumiko Matsuyama (Geb. 1954)

Sie vermied den direkten Blick und sah so viel

Der sowjetische Soldat hält in der rechten Hand ein Schwert, in der linken trägt er ein Kind, das sich an ihn schmiegt. Aberhunderte Pioniere haben sich vor dem Soldaten aufgereiht und antifaschistische Lieder gesungen. Jugendliche standen in blauen Blusen gelangweilt auf den Stufen des Grabhügels, Funktionäre hielten ihre Rituale ab.

Ob ein einziger von ihnen, als er zu der zwölf Meter hohen Bronzestatur emporschaute, an den „Erlkönig“ gedacht hat?

Fumiko Matsuyama aus Yokohama war durch den Treptower Park spaziert, hatte das Sowjetische Ehrenmal gesehen und sich augenblicklich an Goethes Balladenfiguren erinnert: den Vater, der rasend durch die Nacht reitet und dennoch nicht rechtzeitig den Hof erreicht; den Sohn, der im Fieber fantasiert; die rätselhafte Gestalt, die das Kind lockt und begehrt und bedroht; die abwesende Mutter.

Fumiko Matsuyama entdeckte diese Verbindung zwischen der deutschen Geschichte und der deutschen Literatur und ihrem eigenen Leben, das tausende Kilometer vom Treptower Park entfernt begonnen hatte.

Sie war ein sogenanntes „abgegebenes Kind“. Ihr Vater, ihre Mutter hatten gewollt, dass sie in besseren Verhältnissen aufwuchs.

Sie kam zu einem neuen Vater, zu einer neuen Mutter. Sie studierte, ging an die renommierte Waseda-Universität in Tokio und dann weiter, fort aus Japan, bis nach Berlin.

Doch in den Jahren dazwischen, während ihrer Kinder- und Jugendzeit, wie lebte sie da? Hatte sie Freunde? Welche Bücher las sie? War sie froh? Oder oft betrübt?

Seit 1984 lebte Fumiko Matsuyama in Berlin, traf Menschen, sprach mit ihnen in ihrem stockenden Deutsch, und verschloss sich zugleich. Keine großen Gesten, nie Gefühlsausbrüche. Dafür ein zaghaftes Nicken, ein sublimes Lächeln. Sie schaute jemandem, der ihr eine Frage stellte, nicht in die Augen, sondern senkte den Kopf und sagte „hai“, „ja“, in der Art der Japaner, wenn sie andeuten, dass sie aufmerksam zuhören. Sie vermied den direkten Blick und sah so viel.

Manchmal gab es tatsächlich eine winzige Explosion: Dann stand sie vor einer Person, bemerkte irgendetwas, das sie belustigte, und stieß kleine, unverständliche Laute aus. Dennoch, Fumiko Matsuyama war scheuer, sparsamer mit den Worten, als es für die Menschen in ihrer alten Heimat üblich ist.

Sie drehte viele kurze Filme. Einer ist ein Selbstporträt. Sie zeigt Käthe Kollwitz, die Nofretete, sie zeigt sich selbst vor dem Pergamonmuseum, in ihrer Wohnung, beim Aikido, während sie einen Mann über die Schulter auf die Matte wirft.

In „Erlkönig“ unterlegt sie die Ballade mit Bildern des Soldatendenkmals und dokumentarischen Szenen aus dem deutschen Alltag zwischen1933 und 1945.

In „Alltägliche Begebenheiten“ geht eine Frau durch Berlin, vorbei an Menschen, die gegen Krieg, gegen Atomkraft demonstrieren. Hinter der Frau erscheinen Bilder: eine explodierende Atombombe, die Erschießung eines Vietcong. Man hört das Gedicht von Ingeborg Bachmann: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt.“ Andere Bilder sind zu sehen: das zerstörte Hiroshima, das brennende World Trade Center. Und weiter das Gedicht: „Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“

Sie fuhr zu Filmfestivals in Kirgisistan und Usbekistan, in Armenien und Kamerun. Sie lief unaufhörlich durch die Stadt und fotografierte. Berlin im November 1989. Grenzstreifen, die Grenzöffnung, Menschen vor der Mauer und darauf, alles in Schwarz- Weiß. Sie wagte sich an einen längeren Film über Che Guevara, „La Comandante“, in der weiblichen Form, besetzt nur mit Frauen.

Der Film ist abgedreht. Alle Aufnahmen sind geglückt, die getanzten Szenen, die Bilder in der St. Elisabeth-Kirche in Mitte. Sie ist froh. Auch ein wenig müde. Vielleicht von der Arbeit, denkt sie.

„Sie haben Krebs“, sagt der Arzt. Fumiko Matsuyama stemmt sich gegen die Krankheit, mit all ihrer Kraft. Sie reicht nicht.

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