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Berlin: Helene Fabing (Geb. 1933)

Muscheln liegen in der Schublade, eine abgerissene Theaterkarte

Angelika sitzt auf dem Rand des Bettes und liest das Kleingedruckte eines Beipackzettels: Schwindel könne auftreten, Schlaflosigkeit, auch Herzrasen. Vielleicht waren es die Medikamente, denkt sie, die unheilvolle Mischung aus all den Tabletten, die sie täglich schluckte. „Ich weiß nicht“, hatte der Arzt gesagt, „ob Ihre Mutter noch in der Lage ist, allein zu leben.“ Angelika waren selbst Zweifel gekommen. Aber dann sah sie, dass Helene ohne Schwierigkeiten kochte, abwusch und Staub wischte. Oder hatte sie sich nur beruhigen, den unsicheren Schritt, das immer häufigere Festhalten an der Sessellehne, am Türrahmen, nicht sehen wollen? Angelika knüllt den Beipackzettel zusammen und wirft ihn in den Papierkorb. Es dämmert schon. Sie knipst die Lampe mit dem Tulpenschirm an und zieht die obere Schublade des Nachtschränkchens auf. Bunte Pillen liegen zwischen einer Tube Faltencreme, einer Bürste, in der zwei silbrige Haarsträhnen hängen, Nasentropfen und einem Stück Lavendelseife. Angelika hält sich die Seife an die Nase, sie riecht staubig. Helene hatte sie 1995 in Frankreich gekauft, in Avignon, wohin sie mit Peter in dieses altmodische Hotel gefahren war, in dem der Portier sie „Hélène“ genannt hatte, mit stummem H, und das Frühstückstablett mit trockenem Baguette und fettigen Croissants vor die Zimmertür gestellt hatte. Es war ihre letzte gemeinsame Reise gewesen, im Sommer darauf hatte Peter einen Schlaganfall gehabt und war im Herbst gestorben. 43 Jahre zuvor hatten sie sich kennengelernt. Eigentlich war Peter der Freund von Helenes Kommilitonin gewesen, einer Schönheit mit langem Haar und geschmeidigen Bewegungen. Helene dagegen band sich am Morgen schnell einen Pferdeschwanz und lief dann los. Sie rannte mehr, als dass sie ging, nahm eine Treppe nie Stufe für Stufe, sondern sprang in langen Schritten hinauf, von einem Seminarraum zum nächsten, von der Bibliothek in die Mensa, in der sie ihr Mittagessen herunterschlang, um dann weiterzurennen. In der Hand trug sie eine alte Aktentasche, unter dem Arm ihre Chemielehrbücher, und hin und wieder fielen die Bücher zu Boden oder auf der Straße, wenn es geregnet hatte, in eine Pfütze. Anfangs glaubte sie, Peters Blick sei ein amüsierter oder, schlimmer noch, ein mitleidiger. Aber dann fragte er sie, ob sie Lust hätte, mit ihm spazieren zu gehen. Und irgendwann, im Park, griff er, fast beiläufig, nach ihrer Hand.

Angelika legt das Stück Lavendelseife neben sich auf das Bett und zieht die zweite Schublade des Nachtschränkchens auf. Eine Packung mit Migränetabletten, das Verfallsdatum längst abgelaufen, liegt neben einer Damenuhr ohne Armband. Angelika dreht an dem Rädchen der Uhr und sie beginnt zu ticken. Sie wirft die Tabletten in den Papierkorb. Nachdem Helene ihr Studium abgeschlossen hatte, begann sie, in einem chemischen Institut zu arbeiten. Doch die Dämpfe oder die ewig vorgebeugte Haltung, sie wusste es nicht, da sie so selten einen Arzt aufsuchte, verursachten ihr immer wieder diese Kopfschmerzen. Manchmal, wenn sie zu stark wurden, zog sie sich zurück, sprang und rannte nicht mehr. Dann holte Peter Angelika vom Kindergarten ab, kaufte ein und kochte und strich Helene über die pochende Stirn.

An der Seite der Schublade, eingeklemmt zwischen einem Kamm mit abgebrochenem Stiel und einer Holzschatulle, steckt ein Schwarz-Weiß-Foto. Angelika betrachtet es, betrachtet sich selbst mit fünf oder sechs, in einem Rotkäppchenkostüm. Sie hatte das Kostüm nicht gemocht, es war ihr peinlich vor den anderen Kindern gewesen, deren Mütter die schönsten Verkleidungen geschneidert hatten. Helene hatte einfach ein Stück Stoff hervorgekramt, hatte mit groben Stichen einen Umhang genäht, hatte ihr eine rote Wollmütze aufgesetzt, die Wangen angemalt, dabei gelacht, auf ihr unglückliches Gesicht geküsst und gesagt: „Du bist meine Schönste.“ Angelika legt das Fotos zurück und öffnet die Holzschatulle. Ostseemuscheln liegen darin, eine abgerissene Theaterkarte, „Antigone“ im Deutschen Theater, ein goldener Ring mit einem Aquamarin. Sie waren jeden Sommer an die Ostsee gefahren, hatten nackt gebadet und an den kühlen Tagen Muscheln und Bernstein gesucht. Helene hatte das Theater geliebt und die Nächte nach den Aufführungen in den Theaterkantinen. Sie hatte den Aquamarinring, ein Geschenk von Peter, nach seinem Tod vom Finger gezogen. Das Blau des Steines sei ihr nun zu hell, zu klar.

Sie war noch ins Theater gegangen, ab und an, war zu ihrer Freundin nach München gereist oder hatte sich ein Zimmer an der Ostsee genommen. Noch immer hatte sie jede zweite Stufe übersprungen, doch sah man die Mühe jetzt. Und eines Morgens, im Februar dieses Jahres, muss ihr Blutdruck so hoch gewesen sein, dass ein Gefäß in ihrem Kopf zerriss.

Angelika schließt die Schublade des Nachtschränkchens, knipst das Licht aus, geht hinaus und schließt die Tür. Sie muss sich um die Wohnungsauflösung kümmern. Aber das hat noch Zeit.

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