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Berlin: Irene Olga Lydia Gysi (Geb. 1912)

Ein Anachronismus, der in das Jahrhundert passte.

Von David Ensikat

Es gibt Gerüchte um sie, immer schon. Als sie 1919 in Berlin-Nikolassee in die Schule kommt, halten die anderen Schüler sie für eine „Polenspionin“. Sie bewerfen sie mit Steinen. Das liegt daran, dass sie noch kaum ein Wort Deutsch spricht. Russisch spricht sie, so wie ihr Kindermädchen.

Später fragen sich die Leute, ob sie eine Nachfahrin der russischen Zarenfamilie ist. Oder war da nicht was mit Südafrika? Sie arbeitet in der DDR-Kulturverwaltung und tritt als eine Dame auf, die gar nicht in die Welt der SED-Genossen passt. Sie stammt aus gutem Haus, sie hat Erfahrungen gemacht, die den Horizont der jungen Leute, die Du zu ihr sagen, nur weil auch sie Genossin ist, weit übersteigen. So einen soll sie mal aus ihrem Büro geworfen haben mit den Worten: „Jetzt gehen Sie noch einmal raus und klopfen an. Und sollte ich ,Herein‘ sagen, aber nur wenn ich das sage, dann kommen Sie rein und fragen mich, ob Sie mich stören dürfen.“

Irene Olga Lydia Lessing erblickte das Licht der Welt, als es auf dieser zwar schon Genossen gab, jene aber noch nirgendwo etwas bestimmen durften. Es war die alte Welt, in der es in Deutschland einen Kaiser und in Russland einen Zaren gab, und in der deutsche Fabrikanten in Russland steinreich werden konnten. So wie ihr Großvater. Das war ein geborener Levi, der zum Christentum konvertiert war, seine fünf Söhne protestantisch erziehen ließ, damit sie tüchtig wurden, und seine fünf Töchter katholisch, damit sie züchtig blieben. Einer der Söhne übernahm die Fabriken in Russland und zeugte zwei Kinder, eins davon war Irene.

Als sie sechs war, gab es die alte Welt nicht mehr. In Russland regierten jetzt Genossen, die Deutschen hatten ihren Kaiser fortgejagt. Die Lessings wohnten jetzt in Berlin, zwar in einer Villa, doch in einer viel kleineren als jene, die sie in Russland zurückgelassen hatten. Mitgenommen hatten sie das Kindermädchen Mascha, das sich um Irene kümmerte.

So wuchs sie auf zwischen ihrem Elternhaus, in dem russische Emigranten aus und ein gingen, in dem die alte Welt ein Refugium hatte, und dem tosenden Berlin der zwanziger Jahre, das die Moderne gebar und der Moderne ausgeliefert war. Sie entwickelte ein scharfes Bewusstsein für die Brüche in der Welt – und ein ausgesprochen gesundes für sich selbst. Während des Studiums, Volkswirtschaft an der Universität Unter den Linden, lernte sie Klaus Gysi kennen, Jude und Kommunist, und weil inzwischen die Nazis das Land regierten, doppelt in Gefahr. Außerdem sah er gut aus und konnte noch viel besser reden. Auf einem Foto aus dieser Zeit sitzt Irene auf einem Sessel, die schlanken Beine elegant gefaltet, mit einem Blick, der sagt: Dies hier bin ich, der auf der Lehne hat allen Grund, mich sehr zu mögen. Klaus auf der Lehne blickt liebend auf Irenes Scheitel.

In den Jahren, da Deutschland sich an sich selbst besoff, lernte Irene die Welt kennen. Es gab überall Verwandte. An der Sorbonne in Paris studierte sie kurz, in London an der School of Economics auch. Ein halbes Jahr verbrachte sie in Südafrika. Das war 1937, und man riet ihr, dort zu bleiben. Deutschland war kein Land mehr für Weltenmenschen. Dann kam ein Brief, Absender Klaus Gysi. Er schrieb: „Es herbstet, seit du weg bist.“ Sie konnte das verstehen. Weil zu ihrem großen Selbstbewusstsein ein großes Verantwortungsgefühl gehörte, beendete sie ihren ersten Emigrationsversuch.

Ein zweiter folgte 1939. Es war August, noch war Frieden in Europa. Klaus Gysis Mutter, eine Jüdin, lebte im Pariser Exil, Klaus und Irene besuchten sie und wollten bleiben. Am 1. September brach der Krieg aus. Die beiden wurden interniert, kamen frei – und begaben sich zu Klaus’ Genossen von der KPD im südfranzösischen Exil. Die erteilten ihm einen Parteiauftrag, den weniger materialistisch Eingestellte Himmelfahrtskommando genannt hätten: Fahre nach Deutschland, bekämpfe die Nazis. Irene, die nicht wie du als „Halbjude“, sondern als „Vierteljüdin“ gilt und Geld hat, wird sich um dich kümmern.

Er gehorchte. Sie kümmerte sich.

Sie war nicht Mitglied seiner Partei, noch nicht. Sie sagte: „Meine Aufgabe ist Klaus.“

Wer wollte die Zufälle und Glücksfälle aufzählen, denen die beiden ihr Überleben in Deutschland verdankten? Die meisten sind längst vergessen, es waren zu viele. Gerne erzählt wurde von der Zugfahrt mit den SS-Leuten im Abteil, die Klaus Gysi mit jüdischen Witzen bei Laune hielt. Und vom gefälschten Attest, nebst Diphtherie-Abstrich, der allerdings von einem echten Kranken stammte. Den falschen Kranken bewahrte er vorm sicheren Tod im „Bewährungsbataillon“.

Die Erinnerung an die Zeit unter den Nazis, an den aussichtslosen, doch todesmutigen Einsatz gegen sie teilten die Gysis – 1945 heirateten sie – mit etlichen Aufbauhelfern der DDR. Ihre Vergangenheit bewahrte sie zwar nicht vor dem Misstrauen aus den eigenen Reihen – doch sie beschützte ihren festen Glauben, auf der richtigen Seite zu stehen, egal, was geschah.

Irene Gysi, hochgebildet, sprachgewandt, leitete Verlage, redete mit Autoren in der weiten Welt, war im Kulturministerium für den Austausch mit dem Ausland zuständig und leitete schließlich die DDR-Filiale des Internationalen Theaterinstituts. Sie kümmerte sich darum, dass Künstler über die Mauer schauen durften, im festen Glauben, dass deren Weltanschauung an der Weltanschauung keinen Schaden nähme.

Wer sie erlebt hat, spricht von einer Frau, die ihrem Land zwar treu ergeben war, in deren Gegenwart man sich aber gar nicht fühlte wie in der DDR. Ein Anachronismus, der in das Jahrhundert passte. Ein Stück Weite in der Enge. Es gibt die Vermutung, dass sie das Kleinkarierte, das sie wie jeden in dem Land umgab, überhaupt nicht wahrnahm. Das Privileg des weiten Horizonts.

Von Klaus Gysi ließ sie sich nach 14 Jahren Ehe scheiden. Für die beiden Kinder, Gabriele und Gregor, gab es ein Kindermädchen – so wie es für Irene einst Mascha gegeben hatte. Da hat sie ein Stück der alten Welt in die neue hinüberkopiert. Doch die neue Welt ist auch längst passé. 

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