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Nachruf auf Girish Chandra Pant: Er lamentierte nicht

Wenn ihn jemand fragte, in welcher Sprache er träumen würde, antwortete er, auf Englisch und Deutsch, nicht mehr auf Hindi.

Brahmanen, die Geistlichen und Gelehrten im Hinduismus, sind in aller Regel Vegetarier. Sie töten keine Tiere, weil sie an die ewige Wiedergeburt glauben. Girishs Vater war Brahmane, und so aß auch Girish kein Fleisch.

Als er sich 1956 auf den Weg nach Deutschland machte, um hier seine Promotion zu schreiben, nahm er zuerst das Schiff von Bombay nach Genua, von Genua den Zug nach Hannover, von dort einen weiteren nach Berlin. Auf dieser letzten Strecke bot ihm ein Mitreisender ein Leberwurstbrötchen an. Es wäre Girish zutiefst unhöflich vorgekommen abzulehnen. Er nahm das Brötchen und biss hinein. Und als er in Berlin ausgestiegen war, nach insgesamt 6800 Kilometern, hatte er seinen Vegetarismus in diesem Zug, in diesem Abteil zurückgelassen.

Sein Vater hätte kaum Anstoß daran genommen. Er mochte die Regeln des Hinduismus streng befolgen, aber er zwang sie seinen Kindern nicht auf. Es ging liberal bei ihnen zu, in Moradabad, einer Stadt in der Ganges-Ebene, östlich von Dehli. Allerdings auch ärmlich. Den Brahmanen, der obersten Kaste, anzugehören, war nicht unbedingt mit Wohlstand verbunden. Zu sechst wohnte und schlief man in einem Raum, fließendes Wasser und Elektrizität gab es nicht. In einer Ecke stand Ganesha, der elefantenköpfige „Herr der Hindernisse“, der zudem als schelmisch, verspielt und klug gilt. Er war der Hauptgott der Familie.

Eine feurige Liebe

Girish durchlief das britisch geprägte Schulsystem, ging dann ans „Institute of Technology“ im südlichen Bengalore und machte seinen Abschluss in Chemie. Ein deutscher Professor drängte ihn, für seine Doktorarbeit nach Deutschland zu gehen. Geld dafür bekäme er über das DAAD-Programm. Seine Eltern waren skeptisch und traurig, sie konnten sich die Entfernung kaum vorstellen. Girish war keiner, der sich über die Wünsche anderer einfach so hinwegsetzte, schlussendlich aber entschied er sich fortzugehen. Und seine Eltern unterstützten ihn trotz aller Bedenken.

Er mochte Berlin sofort, lernte Deutsch, schrieb an der „Technischen Universität“ konzentriert an seiner Promotion. Währenddessen studierte nur ein paar Schritte entfernt an der „Hochschule der Künste“ eine junge Frau Klavier und Harfe. Ruth kam aus der Nähe von Greifswald, war in einem Pfarrhaus aufgewachsen und fuhr oft nach Hause, die Mauer stand noch nicht.

Nach dem Üben schlenderte sie manchmal in die evangelische Studentengemeinde, und stand dort eines Tages diesem jungen, sanftmütigen Inder gegenüber. Es muss eine feurige Liebe gewesen sein, sagt Girishs ältester Sohn, nachdem er jetzt die frühen Briefe der beiden gefunden hat. Die Familien beider allerdings waren nicht gerade begeistert von der Beziehung. Den Hindus waren die Deutschen zu fremd, den Deutschen die Hindus. Doch das legte sich schnell. 1960 gaben sich Girish und Ruth das Ja-Wort, insgesamt vier Mal: vor dem Pfarrer der Studentengemeinde, auf dem Standesamt, in der Kirche bei Greifswald, bei einer Zeremonie in Indien.

1961 zogen sie nach Essen, Girish hatte dort eine Stelle gefunden. 1962 kam Anand zur Welt, 1964 Rana. Sie zogen weiter nach Hessen, erst nach Heusenstamm, dann nach Hofheim, Girish arbeitete bei einer Anlagenbaufirma. Er stieg dort zu einem leitenden Angestellten auf, konnte aber den Gedanken nie ganz beiseiteschieben, dass es für ihn noch etwas höher hätte gehen können. Trotz aller Kompetenz - die Chefs sahen in ihm stets den Ausländer, so vermutete er, der seit Mitte der 70er Jahre einen deutschen Pass besaß. Er beschwerte sich nicht, er lamentierte nicht, das war nicht seine Art, er war sich nicht einmal ganz sicher, ob seine Annahme stimmte. Selbst wenn ihn der Bankangestellte duzend und viel zu laut in einer verkrüppelten Syntax ansprach, „Du wollen abheben Geld“, legte er das nicht auf die Goldwaage.

Den Spruch auf dem Anrufbeantworter löschte er nie

Das eigentlich Qualvolle spielte sich zu Hause ab. Ruth war psychisch krank. Eine bipolare Störung, starke Psychosen. Es war schlimm. Ihre kleinen Söhne begriffen beim kleinsten Indiz: Jetzt geht es wieder los, unsere Mutter wird nicht mehr für uns da sein. Sie kauften ein, wuschen das Geschirr und die Wäsche. Dazu die Scham. Kam ein Freund zu Besuch, bugsierten sie ihn, so schnell es ging, an Ruth vorbei ins Kinderzimmer. Manchmal verschwand sie für Wochen in Nervenheilanstalten, in denen man damals noch auf schwere Elektroschocks setzte, in denen die Menschen in eiskaltes Wasser getaucht wurden.

In den weniger dunklen Momenten holte sie die Noten hervor und spielte auf ihrem Flügel. Dreimal versuchte Ruth, sich das Leben zu nehmen. Girish arbeitete und versuchte gleichzeitig, das Grauen für die Jungs erträglich zu machen. Er chauffierte sie zu den Demos gegen die Startbahn West, er erlaubte ihnen Tramptouren durch Europa. Und er blieb seiner Frau gegenüber immer loyal, dachte zu keinem Zeitpunkt daran, sie zu verlassen.

1995 ging Girishs Firma pleite, 1996 begann offiziell seine Rente. Es war zu verschmerzen. Zehn Jahre kümmerte er sich um Ruth, sie kauften moderne Kunst, reisten, auch wenn das oft anstrengend war. Bis sie an einem Herzinfarkt starb. Den Spruch auf dem Anrufbeantworter – „Wir sind nicht zu Hause. Hinterlassen sie uns eine Nachricht“ – löschte er nie.

Er zog zurück nach Berlin, nicht an den stillen, grünen Rand, sondern in die Chausseestraße mitten in der Stadt, ein paar Schritte entfernt von seinem Sohn. Er war keineswegs der alte Vater, der höflicherweise irgendwohin mitgeschleppt wurde. Mit verblüffender Leichtigkeit bewegte er sich in den neuen Kreisen. Unternahm ab und an lange Touren durch Indien.

Wenn ihn jemand fragte, in welcher Sprache er träumen würde, antwortete er, auf Englisch und Deutsch, nicht mehr auf Hindi. Mit 89 Jahren starb Girish an einem Herzinfarkt.

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