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Jens Carlberg

© privat

Nachruf auf Jens Carlberg: Plötzlich im weißen Dress

Sein Vater meinte, er sei „zu doof“ fürs Abitur. Das ließ ihn nur noch hartnäckiger werden.

Die Schuhe sind nagelneu, keine Schramme, kein Fleck. Der Zustand soll möglichst lange anhalten. Denn neue Schuhe sind keine Selbstverständlichkeit, neue Schuhe kosten. Eigentlich sollte er sich freuen, die alten, abgetragenen werden endlich ersetzt. Aber er freut sich nicht. Aus reiner Bockigkeit gegen die überbordende Ordnungsliebe seines Vaters. Jens tut so, als interessiere ihn das Präsent nicht. Doch es kommt der Fußballtag, er macht sich auf den Weg zum Training – und zieht die neuen Schuhe an. Am Abend starrt sein Vater fassungslos auf die Schlammspritzer, die Kratzer, das ganze Elend.

Jens pfiff darauf. Er pfiff auf die Regeln, auf verknöcherte Vorstellungen von Moral und Disziplin, die für ihn nur Aufforderung zu Unterwürfigkeit bedeuteten. Er ging lieber zum Meer, das nicht weit von der Cuxhavener Wohnung lag, lief Stunden durchs Watt, hielt sein Gesicht in den schneidenden Wind und sang. Er zog sich seine Faja, eine Art schwarze Kutte, über, schnallte seinen Affen, einen fellbesetzten Rucksack, um und wanderte mit anderen Jungs durch die Gegend. Er erzählte überall, er habe einen Onkel in Afrika mit einer Farm, weshalb ihn alle Farmer nannten. Während der Sommerferien lümmelte er mit Freunden vor dem Strandhaus Döste herum und begutachtete die Frauen beim Baden. Mit 14 trampte er nach Marokko. Zuvor hatte er jemanden beauftragt, den Eltern eine Ansichtskarte aus dem Harz zu schicken.

Die Schule war ihm schnuppe. Mit seinem Vater gab es unablässig Streit, weil er spät nach Hause kam, weil er sich nicht ausreichend an den häuslichen Pflichten beteiligte, weil kaum jemand seine Sauklaue lesen konnte. Dass er eigentlich Linkshänder war, aber gezwungen wurde, mit rechts zu schreiben, milderte das Urteil nicht. Dennoch sagte Jens später: „Ich hatte eine gute Jugend.“ Auch wenn der Vater ab und an zugehauen hatte. Jens’ Schwester Hilde – insgesamt waren sie vier Kinder – sagt, Jens habe immer die Anerkennung seines Vaters vermisst. Vielleicht, fügt sie an, sei dieser eifersüchtig gewesen, weil die Mutter den Sohn zu oft in Schutz genommen habe.

Nach der 8. Klasse jedenfalls begann Jens eine Lehre zum Maschinenschlosser. Harte Arbeit. Und dann geriet er mit der rechten Hand in die Kreissäge. Es dauerte lange, bis die Verletzung heilte. Inzwischen riefen ihn die Leute nicht mehr Farmer, sondern Charly, abgeleitet von Carlberg. Die meisten seiner Freunde und zwei seiner Geschwister waren aufs Gymnasium gegangen und studierten. Das wurmte ihn, das wollte er auch. Außerdem wollte er nicht zum Bund, auf keinen Fall. Wo konnte er das Abitur nachholen und der Armee entgehen? In Berlin! Für die Schule brauchte er die Unterschrift seines Vaters. „Dafür bist du zu doof“, schleuderte der dem Sohn entgegen. Was Jens nur noch hartnäckiger werden ließ. Irgendwie schaffte er es, zog nach Berlin, ging auf die Abendschule, arbeitete nebenbei als Aluminiumschlosser und studierte dann Geschichte und Pädagogik. Er mischte beim Asta mit und beim Sozialistischen Hochschulbund. Und er lernte Tennis. Der Achtklässler, der Fußballer und Rebell plötzlich im weißen Dress unter all den Wohlsituierten. Doch er liebte Ballspiele, und sein politischer Geist verlosch keineswegs.

Er bringt uns den Wannsee wieder

„Bild“-Zeitung

Nach dem Studium unterrichtete er an der Fritz-Karsen-Schule, der ältesten staatlichen Gemeinschaftsschule Deutschlands. Viele der Lehrer dort waren deutlich links, was Ärger mit der Schulbehörde bedeutete. Er lehre zu viel Brecht, warf man Jens vor. Außerdem habe er Herbert Wehner auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg die Brille von der Nase gerissen. Ein Disziplinarverfahren wurde angestrengt. Es stellte sich heraus, dass der Brillenrowdy ein anderer gewesen war, trotzdem versetzte man Jens an die Kepler-Hauptschule in Neukölln. Niemand wollte dorthin, es ging chaotisch zu. Das alte Kollegium stand den jungen Antiautoritären gegenüber. Zu denen zählte Regina. Sie sah Jens, forsch, fordernd. Gemeinsam gründeten sie eine Schulgruppe, arbeiteten in der Gewerkschaft, verlangten die Abschaffung von Hauptschulen. Zu Weihnachten fuhren sie zum Skifahren zu einem Bauern in die Steiermark. Sie zogen in eine WG in Friedenau, stritten auf Konferenzen, stellten Anträge, demonstrierten. Und kauften 1977 eine Wohnung in Schmargendorf. Neukölln – Grunewald, zwei Welten. Wo er nun wohnte, zwischen den Kiefern, konnte er gut abschalten. Was keineswegs hieß, dass er weniger streitbar war. Er gründete die „Bürgerinitiative Strandbad Wannsee“, die sich zum Ziel gesetzt hatte, dieses vorm Verfall zu bewahren. „Er bringt uns den Wannsee wieder“, titelte die „Bild“-Zeitung, die er so verachtete.

2002, mit 60, hörte er auf zu arbeiten. Er war Mitglied der Linken, machte mit bei der Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen enteignen“ und setzte sich für die Freilassung von Julian Assange ein. Mit Regina und ihrer Tochter Nora fuhr er zur Demonstration gegen den G20-Gipfel in Hamburg und zu Vorträgen von Friedensforschern in Ramstein. „Ein alter linker Knochen“, wie ihn Regina nannte.

Er spielte dienstags Tennis und donnerstags Volleyball, er segelte und surfte, am liebsten bei schneidendem Wind. Er radelte mit Gruppen durch Kuba und auf den Kanaren. 2008 kaufte er ein Wohnmobil. Daran war ein Kajak befestigt, mit dem er über wilde Wasser paddelte. Das Alter? Davor graute ihm.

Am 4. Dezember 2021 baute Jens das Kajak ab und wollte es im Keller verstauen. Er geriet aus dem Gleichgewicht, stolperte und stürzte die Treppe hinab.

Lähmung, vom Hals abwärts. Aus dem Krankenhaus rief er zu Hause an, ein Arzt hielt ihm den Hörer ans Ohr. „Wir müssen reden“, sagte er zu Regina. „Ich will das nicht. Hilf mir.“

Sie redeten über seine Beerdigung. Regina fragte: „Willst du dahin, wo du als Junge durchs Watt gelaufen bist?“, und er antwortete: „Ja.“ Das Beatmungsgerät wurde abgeschaltet. Er starb am 8. Dezember.

Im Februar darauf fuhren Regina und Nora mit der Urne ans Meer. Wind der Stärke fünf kam auf. Surfwetter.

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