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Michael Naue

© Gedenkstätte Hohenschönhausen

Nachruf auf Michael Naue: Rettung gegen Unterwerfung? Niemals!

Wer blaue und rote Linien nicht respektiert, was respektiert der überhaupt? Der Nachruf auf einen, der es sich nicht leicht machte

Von Kerstin Decker

In einem ihrer letzten Gespräche ging es um Bienen. Michael Naues Kollege, der ehemalige Häftling des Untersuchungsgefängnisses der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen Michael Bartsch, verstand nicht recht, warum plötzlich viele hundert Bienen auf dem Birkenstamm saßen, den er gerade zersägt hatte. Naue, wie Bartsch früherer Häftling des Gefängnisses und seit fast zehn Jahren Besucher-Führer dort, lachte: Birkensaft sei süß, darum kommen sie.

Naue mochte Bienen. Im Zweifel hielt er sie für vertrauenswürdiger als Menschen. Sie stechen nie ohne Grund, das ist der Unterschied. In einem Schwarm Bienen fühlte er sich sicherer als in einem Schwarm Menschen. Wahrscheinlich hatten seine Bienen Michael Naue längst in ihren Staat aufgenommen. Es war der einzige Staat, den er aushielt .

Die Imker-Lehre hatte er erst vor ein paar Jahren gemacht, aber inzwischen haben viele Mitarbeiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen bereits Michael-Naue-Honig probiert. Dass er und sein Garten und seine Bienen zusammengehörten, wusste jeder.

Und nun ist er nicht mehr da. Keiner weiß genau, was passiert ist. Nur dass er es noch selbst ins Krankenhaus geschafft habe; die Rede ist von Bakterien in der Lunge, überall.

Mag sein, manch einer denkt, dieser Tod passe zu ihm. Nicht ganz greifbar, nicht ganz stellbar, wie er selbst. Nur wenige Dinge gehörten ganz unzweifelhaft zu ihm: Yoga, die Bienen und sein großer Garten, letztere in Magdeburg. Das war nicht unbedingt komfortabel für einen, der in Berlin-Neukölln wohnte, aber wer kann sich das aussuchen?

Der Magdeburger Garten war, was von einer Liebe übrigblieb. Undenkbar, ihn aufzugeben. Wahrscheinlich war er die Wiederholung seines Ur-Gartens. Der Ur-Garten war der seiner Großmutter Hedwig.

Eine Frage des Rhythmus

Vielleicht war das die einzige Heimat, die er je hatte. Der einzige Ort, wo das Leben einfach war. Arbeit  war nicht Arbeit, obwohl sie so aussah. Stundenlang mit der Großmutter Gemüse schälen und Obst einkochen, Fohlen, Lämmer und Kälber zur Welt bringen. Ohne seine Ermutigungen und Beruhigungen, da war der Junge sicher, hätten die Mütter der Kleinen das nie geschafft. Und wenn sie krank waren, schlief er neben ihnen im Stall. Manchmal kamen Mischas Eltern zu Besuch, sie hatten einen Friseursalon in Berlin-Baumschulenweg. Der Besuch war schön, aber erst wenn er wieder weg war, stellte sich die vollkommene Großmutter-Enkel-Eintracht im Falkenseer Haus von Hedwig Löper wieder her.

Leben ist eine Rhythmusfrage. Damals stimmte alles, aber mit Mischas Einschulung geriet sein Dasein aus dem Takt. Kein Garten, keine Tiere, keine Blumen. Dafür viele laute Menschen. Und Kinder. Die anderen, das sah er wohl, freuten sich über den ersten Schultag und ihre Zuckertüten. Er hielt das alles für einen Irrtum, die Zuckertüte lag wie Blei in seinen Armen.

Schule. Dass er nicht an diesen Ort passte, wusste er spätestens, als der Lehrer die Funktion der Linien in seinem Schreibheft erklärte: Die Buchstaben durften niemals über die Linien ragen, nicht oben, nicht unten. Aber seine gingen immer drüber. Zumal er schon schreiben konnte und lesen auch. Was man bei Großmüttern so lernt. Der Lehrer hielt es für Disziplinlosigkeit. Und wer blaue und rote Linien nicht respektiert, was respektiert der überhaupt?

Stundenlang Autoscooter

Der vielleicht schönste Tag im Schulleben des Mischa Naue war der Tag, als ein paar Mitschüler ihn fragten, ob er Lust hätte, mit in den Plänterwald zu fahren. Mitten in der Schulzeit. Ein Onkel hatte den Autoscooter dort, eine Tante den Pufferstand, Schausteller-Familie. Die Schulschwänzer fuhren stundenlang Autoscooter und Achterbahn und vertilgten zwischendurch Unmengen Kartoffelpuffer. Es war der Inbegriff eines gelungenen Tages. Wie war’s beim Schwimmen?, fragte die Mutter beim Nachhausekommen, denn dort hätte er zuletzt sein müssen.

Wie immer, lautete die kleinlaute Antwort.

Vielleicht eine Spur zu kleinlaut, denn plötzlich stand sie mit seiner staubtrockenen Badehose im Zimmer: Du lügst!

Starr vor Schreck fiel dem Schulschwänzer nichts anderes ein, als das zu leugnen. Sollte er etwa sagen, dass er einen ganzen Schultag lang Achterbahn gefahren war und Kartoffelpuffer gegessen hatte? Seine Mutter gehörte nicht zu denen, die solche Mitteilungen mit Fassung aufgenommen hätten. Aber sie gehörte zu denen, für die das Lügen gleichsam einem Selbstausschluss aus der Menschheit gleichkam. Hier half nur noch eins, glaubte sie: Schläge. Wie einfach hätte der Junge die verzweifelte mütterliche Prügelorgie beenden können, aber sein Stolz ließ es nicht zu. Rettung gegen Unterwerfung? Niemals! Das sollte nie anders werden.

Das Verhältnis zu seiner Mutter, der Friseurmeisterin Naue, musste fortan als zerrüttet gelten. Mit seinem Vater war es besser, aber auch der Friseurmeister Naue war in den Augen seiner Mutter widerlegt, schon weil er seine Abende lieber in der Kneipe als zu Hause verbrachte.

Und dann geschah es. Nicht versetzt nach der achten Klasse. Das Verhältnis zur Schule durfte auch als zerrüttet gelten, nicht nur, weil er keine Achtung hatte vor den Linien im Schreibheft und allen übrigen. Für Mischa Naue war die Schule einen Einrichtung, die die Dummen nicht von den Klugen unterscheiden konnte, aber mit diesem Wissen war er sehr allein.

Alkoholiker, Kriminelle, entlassene Sträflinge

Man konnte nicht viel werden in der DDR nach acht Klassen. Gleisbauer!, schlug seine Mutter vor, denn sie hatte gehört, dass die Gleisbauer-Lehrlinge im Internat wohnen.

Gleisbau mit 14 Jahren. Alkoholiker, Kriminelle, entlassene Sträflinge. Alle, die nichts anderes fanden. Und er. Immer würde die Erinnerung an den brennenden Körper bleiben, das Zittern in Armen und Beinen vor Überanstrengung. Und dazu nicht selten Schläge der anderen. Das hier versammelte Strandgut des Lebens brauchte seine kleinen Triumpfe. Wahrscheinlich spürten sie seine Distanz. „Ich drohte, in mir zu ersticken“, hat er später über diese Zeit gesagt. Bis ihn irgendwann ein älterer Gleisbauer fragte, ob er mitkommen wolle zum Bogenschießen.

Bogenschießen. Ganz Pfeil und doch ganz Ruhe sein. Unbeweglichkeit mit Höchstgeschwindigkeit. Mitten ins Schwarze treffen. War es nicht eine Art Meditation? Über die Bogenschützen begegnete er dem Zen-Buddhismus und Wing Tsun. Hartes Training. Sein Geist und sein Körper spannten sich. Seine Peiniger lernten, ihm aus dem Weg zu gehen.

Die DDR hatte durchaus ihre rührenden Seiten. So war sie der Auffassung, dass auch ein künftiger Gleisbauer Goethe und Heine kennen sollte. Der Deutschlehrer der Gleisbauer war von seinem Publikum vieles gewohnt, aber eines nicht: Widerspruch. „Sie verstehen Heine falsch!“ Diese Anschuldigung des meditierenden, bogenschießenden Acht-Klassen-Schülers, Lehrling des Wing Tsun, Zen und Gleisbaus, war der Beginn eines erbitterten germanistischen Wettstreits.

Natürlich brauchte der Schüler Beistand und geriet schließlich an einen Doktor der Literaturwissenschaft, den das Problem dieses jungen Sohns der Arbeiterklasse durchaus interessierte. Erstaunt betrat Michael Naue die Wohnung des Doktors, der offenbar der Untermieter von mehreren tausend Büchern war. „Camus, Hesse, Whitman, Hegel, Nietzsche hielten Einzug in meine Gedanken“, würde er rückblickend sagen.

Eine Dachstubenexistenz: Frieren, Trinken, Dichten

Er zählte die Tage bis zum Ende seiner Lehrzeit, am letzten steckte er den Gesellenbrief in die Tasche und kündigte bei der Deutschen Reichsbahn. Endlich frei! Das war seine Interpretation, die DDR hatte für seine neue Existenzform ein anderes Wort: asozial. Das war in der DDR jeder ohne festes Arbeitsverhältnis. Michael Naue war nun viel bei seiner Großmutter in Falkensee und lebte von Gelegenheitstätigkeiten.

Immer wieder erschien er in der Kommunalen Wohnungsverwaltung und wies leerstehende, tendenziell unbewohnbare Altbau-Wohnungen nach, die er trotzdem nicht bekam. Aus Protest kettete er sich an eine Heizung in der Wohnungsverwaltung. Und die gab schließlich nach. Im Winter hatte er zehn Grad minus im Zimmer, der Schnee fiel auf die Dielen seiner Dachstube. Aber dieser Kühlschrank mit Ausblick über die Dächer von Schöneweide gehörte ihm allein. Und er machte das gleiche wie die Dachstubenexistenzen aller Zeiten: Er fror, trank viel Rotwein und dichtete.

Im Frühjahr begann er zu mauern, zu verputzen und Leitungen neu zu verlegen, bald konnte er alles. Hedwigs Aussteuer wurde zu seiner Basiseinrichtung: Jugendstilmöbel, Bleikristall und ein altes Röhrenradio. Dazu Bücher, unendlich viele Bücher. Er fand Arbeit in einer Sattlerei. Mit Hedwigs Hilfe wurden aus seinen beiden linken Gleisbauer-Händen die eines Meisternähers. Und keine Dachstube ohne Liebe! Er fand auch sie. Das Leben lebte. So hätte es bleiben können.

Und doch hatte der Linienflug Budapest-Bukarest-Istanbul irgendwann einen Zwanzigjährigen an Bord, der versuchte, nicht an die Freundin, die Dachstube und seine verlassenen 3000 Bücher zu denken. Istanbul! Ihm war übel vor Angst. Wenn wenigstens Türken an Bord wären, das hätte ihn beruhigt. Er umklammerte seinen gefälschten westdeutschen Pass. Zwischenlandung in Bukarest. Alle stiegen aus, er war der Letzte. Diese Maschine flog nicht weiter. Er musste also raus. Aber nicht mit dem gefälschten Pass! Vielleicht wartete schon die Securitate auf ihn. Er steckte den Pass zwischen die Vordersitze. Die Securitate fragte kurz darauf, sinngemäß: Wie war’s beim Schwimmen? Konkret: Wo wollten Sie hin? Und die rumänische Geheimpolizei machte die gleiche Erfahrung wie Naues Mutter und reagierte auch so, sie schlug zu. Dann ließ sie ihn laufen.

Was habe ich in Jugoslawien verloren?

Michael Naue gehörte zu den vielleicht nicht allzu zahlreichen Menschen, deren Entschlüsse durch harten Widerstand nicht gebrochen, sondern verstärkt werden. Zurück in Budapest beschloss er, statt nach Hause zu Fuß über die ungarisch-jugoslawische Grenze zu gehen. Die Sonnentage am Balaton zuvor deklarierte er als notwendige Stärkung. Was habe ich in Jugoslawien verloren? Immer öfter ertappte er sich bei dieser weichlichen Balaton-Spätsommerfrage. Bevor er sie endgültig mit „nichts“ beantworten würde, lief er los. Er lief sehr lange, fror in den Nächten, verlor den Kompass, bekam Fieber, aber er lief und lief. Irgendwann hörte er erst Stimmen, dann Schüsse. Das waren die ungarischen Grenzer. In die Befriedigung, die richtige Richtung gewählt zu haben, mischte sich namenlose Angst. Er rannte zurück, nur weg von den Schüssen. Budapest, ein drittes Mal.

Und dann war er wieder  in Berlin-Schöneweide, unter lauter Leuten, die nie mit gefälschtem Pass den Linienflug Budapest-Bukarest-Istanbul nehmen würden, die sich nie allein zu Fuß an irgend eine Grenze wagen würden. Lauter Alltagsfliegen. Alltagsfliegen im Advent. Vielleicht, überlegte der Rückkehrer, sind die einfachsten Pläne die besten. Er würde einfach über den Grenzübergang Bornholmer Straße gehen. Es war eine Frage der Konsequenz. Ich war schwimmen! Ob die es wagen würden zu schießen, in der Adventszeit, unter so vielen Passanten? Praxistest.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er loslief. Der Grenzer, der schließlich seinen Pass forderte, lag Augenblicke später gefällt auf dem Boden. Das war Wing Tsun. Naue rannte, Schüsse fielen im Advent.

Wing Tsun gegenüber Grenzbeamten? Meditation und Yoga in der Zelle? Die DDR hatte nicht vor, Michael Naue zu schonen. Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen ersparte ihm nichts. Drei Monate Einzelhaft, tagelang keine Vernehmungen, dann wieder ununterbrochen. Absurde Disputationen über den Zen-Buddhismus. Er hätte es sich leichter machen können. Aber die Anweisung des Hauptvernehmers in seiner Gegenwart, die Großmutter Hedwig Löper zu verhaften, machte ihn rasend vor Wut. Diesen Kreaturen des Systems gab er keinen Millimeter nach. Der Preis: Zwei Jahre Haft in Naumburg.

Er lernte nach dem Gleisbau das Gefängnis als Exempel männlicher Vergesellschaftung kennen. Hier machten die Kriminellen die Regeln. Arbeitskommando Plaste I. Am ersten Tag stand „der Brigadier“ vor ihm, ein Schrank von einem Kerl. „Der Brigadier“ öffnete die Hose in Erwartung der gewohnten sexuellen Dienstleistung. Verweigerung undenkbar und nie erprobt. Eine Viertelstunde später wurde „der Brigadier“ auf der Trage aus dem Saal geschafft. Die unfassbare Kunde verbreitete sich im Gefängnis. Ein paar Augenblicke hatten über Naues Stand für die nächsten zwei Jahre entschieden. An deren Ende hörte er das schönste Wort seines Lebens in der DDR: Ausgebürgert!

Ein Mercedes-Bus fuhr in den Gefängnishof, 20 Häftlinge stiegen ein. Freigekauft. Die meisten Männer verbrachten die Fahrt in Tränen, er auch.

Michael Bartsch, der frühere Mithäftling in Hohenschönhausen, glaubt nicht, dass Naue die Gefängniszeit  je verwunden hat, das würden die meisten nicht schaffen. Da halfen auch nicht die drei Jahre in einem japanischen Zen-Kloster.

Er lernte Koch, um endgültig den widerlichen Geschmack der DDR-Gefängniskost von der Zunge zu bekommen. Kochen wie damals bei Großmutter Hedwig. Kochen als Heimat. Er liebte das. Aber Kochen mit Vorschriften? Kochen mit Abrechnungen? Immer innerhalb der Zeilen schreiben, nicht oben drüber, nicht unten drunter? Er konnte das nicht, nicht auf Dauer.

Vor bald zehn Jahren schrieb Michael Naue sein Leben auf und nannte das Buch „Gefangen mit Buddha“. Auf dem Wochenmarkt am Berliner Südstern verkaufte er oft Selbstgemachtes, vor allem das „Sandwich Hedwig“. Und Magdeburger Honig natürlich.

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