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Berlin: Nicht ganz schmerzfrei

60 Jahre wusste man nicht, was aus den jüdischen Ärzten in Mitte wurde. Jetzt begann die Spurensuche

Das altweiße Mietshaus in der Rosenthaler Straße 61 ist heute kaum noch schick genug für die Gegend um den Hackeschen Markt. Immerhin sind ein Weinladen und eine Sushi-Bar im Parterre. In diesem Haus also hat Felix Mayer seine Praxis gehabt, als er sich noch Nervenarzt nennen durfte. Ein paar Schritte weiter, in der Rosenthaler 46 mit der gerundeten Ecke zur Neuen Schönhauser Straße hin, ist ein Schmuckladen im Erdgeschoss. Darüber eine Anwaltskanzlei, eine Personalmanagement-Gesellschaft und eine Ärztin für Psychosomatik. Hier erinnert nichts an Leopold Bernhard, den Arzt für innere Medizin. Und in der Nummer 43 gegenüber den Hackeschen Höfen, wo Gustav Held zunächst als „Krankenbehandler“ noch geduldet war, befindet sich jetzt eine Seniorenresidenz.

Mindestens 40 der 2000 jüdischen Berliner Kassenärzte haben 1933 in dem Viertel rund um die Neue Synagoge gelebt und gearbeitet. Die Juden stellten die Mehrheit der 3600 Berliner Kassenärzte; hinzu kamen 1000 jüdische Krankenhausmediziner. 1938, als mit der Reichspogromnacht der systematische Staatsterror gegen die Glaubensgemeinschaft begann, durften sich 279 von ihnen als „Krankenbehandler“ zunächst noch um jüdische Patienten kümmern. Noch.

Was dann aus ihnen geworden ist, blieb mehr als 60 Jahre unbeantwortet. Bis sich die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin entschloss, die Antworten zu suchen – auch wenn sie unerfreulich sein würden – und stellt klar: „Es geht nicht darum, Kübel von Dreck über die alten Kollegen auszuschütten. Es geht um ein Zeichen, dass so etwas nie wieder passieren darf“, sagt Manfred Richter-Reichhelm, der als früherer KV-Vorsitzender das Projekt vorantreibt. Im vergangenen Jahr begann ein Forschungsprojekt unter Regie der Hamburger Historikerin Rebecca Schwoch zu den Verstrickungen von Ärztefunktionären und Nazigrößen. Ein gerade erschienenes Büchlein über die jüdischen Kassenärzte rund um die Neue Synagoge ist das erste greifbare Resultat dieser Arbeit.

Der Anstoß sei vom Vorsitzenden des Bundesverbandes jüdischer Ärzte gekommen, erinnert sich Richter-Reichhelm. Bundesärztekammer, Ärzteverlag und Kassenärztliche Bundesvereinigung spendeten zusammen 120 000 Euro, weitere Institutionen und Privatleute gaben rund 65 000 dazu, so dass das avisierte Budget von 200 000 Euro bald erreicht sein dürfte. „Erfreulich“ nennt Richter-Reichhelm die Resonanz.

Ganz schmerzfrei ist die Untersuchung nicht: Der hohe Organisationsgrad der Ärzte in der NSDAP stach ebenso hervor wie die „ehrerbietigste“ Bereitschaft ihrer Verbände zur „selbstlosen Mitarbeit am Neuaufbau von Staat und Volk“, die sie gleich 1933 in Mitteilungsblättern formulierten. Deshalb widmet sich das Forschungsprojekt nicht nur dem Schicksal der jüdischen Mediziner, sondern auch den Tätern. Richter-Reichhelm will „Ross und Reiter“ genannt wissen – und merkt an, dass die Verdrängung der jüdischen Kollegen den anderen kaum geschadet haben dürfte. In spätestens zwei Jahren sollen alle Ergebnisse zu Tätern und Opfern in Buchform präsentiert werden. Es gibt viel mehr zu erzählen als nur die Schicksale. Allein die Vorgeschichte ist ein Kapitel für sich: Schon seit dem 19. Jahrhundert war es im konservativen Preußen Sitte, Juden aus dem Staatsdienst fernzuhalten. Deshalb wurde, wer kleinbürgerlichen Verhältnissen entfliehen wollte, oftmals Arzt. Ende des 19. Jahrhunderts war jeder dritte Berliner Medizinstudent Jude.

So wie Felix Mayer. Der Nervenarzt konnte sich vor den Nazis nach Schweden retten – ein halbes Jahr, nachdem ihm die Zulassung entzogen worden war. Er starb 1960, wahrscheinlich in München. Gustav Held gelang es sogar in Berlin zu ü berleben. Leopold Bernhard aus der Rosenthaler 46 hatte weniger Glück: Im März 1943 wurde er als 77-Jähriger nach Auschwitz deportiert und dort nach der Ankunft ermordet. Jetzt, nach mehr als 60 Jahren, interessieren sich auch seine Kollegen dafür.

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