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Berlin: Nicht nur ätzend, auch gefährlich

Bei den Attacken mit Flusssäure auf U-Bahnhöfe und Züge in Berlin ist inzwischen ein Mensch verletzt worden. Was ist Flusssäure und warum ist sie so gefährlich?

Es hört sich zunächst an wie ein Widerspruch: „Flusssäure ist eine schwache Säure, aber sehr gefährlich“, sagt Matthias Driess, Professor für anorganische Chemie an der Technischen Universität (TU) Berlin. Eigentlich gilt die Stärke einer Säure als Maß für das Risiko, das mit ihr verbunden ist. Salzsäure zum Beispiel frisst Löcher in die Kleidung und verätzt die Haut, sobald man mit ihr in Kontakt kommt. Glas dagegen wird von Salz- oder Schwefelsäure nicht angegriffen. Deshalb kann man sie auch in Glasflaschen aufbewahren. Flusssäure wiederum zerfrisst Glas und muss deshalb in Plastikbehältern gelagert werden.

Flusssäure setzt sich aus positiv geladenen Wasserstoff-Ionen und negativ geladenen Fluorid-Ionen zusammen. Ionen sind elektrisch geladene Teilchen. Die Fluorid-Teile verbinden sich häufig mit positiv geladenen Silikat-Ionen, die Hauptbestandteil von Glas sind. Deshalb ist Flusssäure besonders geeignet, um Glas zu beschädigen. „Silizium wird herausgewaschen, das Glas wird trübe“, sagt Matthias Driess. Die Affinität zu Silizium macht sich auch die Elektronikindustrie zunutze. Nur deshalb können Computerchips bearbeitet oder Solarzellen geformt werden. Auch in der Galvanik leistet die Flusssäure, die Metall ätzt, gute Dienste.

Innerhalb des Flusssäure-Moleküls ist die Bindung zwischen dem Wasserstoff- und dem Fluorid-Ion ziemlich stark. Deshalb gilt Flusssäure als schwache Säure. Die Stärke einer Säure hängt nämlich von der Menge der freien Wasserstoff-Ionen ab, die sich in der Lösung befindet.

Diese hohe Affinität an positiv geladene Ionen macht die Flusssäure auch so gefährlich für Lebewesen. „Flusssäure wirkt als trojanisches Pferd“, sagt der TU-Chemiker. Sie gelange über die Haut leicht in den Körper. Dabei täusche die Säure dem Organismus vor, es handele sich um Wasser. Denn Wasser ist ebenfalls eine Flüssigkeit mit wenig freien Wasserstoff-Ionen. So kann Flusssäure in tiefere Schichten des Körpers gelangen. Dort werden Magnesium- oder Kalzium-Ionen gebunden. Lebenswichtige Enzyme fallen aus. Störungen des Stoffwechsels und Schädigung von Leber und Niere sind die Folge.

„Es kann auch zu Herz-Rhythmus-Störungen kommen“, sagt Elke Goldbach, Ärztin beim Giftnotruf Berlin. Die Flusssäure könne sogar bis zu den Knochen vordringen, sagt Driess. Der Kontakt mit Flusssäure könne stark eitrige und schwer heilende Wunden verursachen.

Allerdings hängt auch hier die Wirkung von der Konzentration ab. Schwere Verätzungen, die sogar zum Tode führen können, sind bisher nur aus der Industrie bekannt. Im Laden um die Ecke ist Flusssäure nicht einfach so erhältlich, die Substanz kann aber in Rostentfernern oder Steinreinigern enthalten sein. Vielleicht haben die Sprayer, die in der Berliner U-Bahn oder S-Bahn Scheiben verätzen, die Substanz über das Internet erhalten, spekuliert Driess. Auf die Glasscheibe gesprüht, löse die Flusssäure rasch Silikat heraus. Übrig bleibe harmloses Wasser.

Die größte Gefahr sieht Driess für Umstehende, die die Substanz inhalierten, so dass sie in die Lunge gelange und Husten oder Atembeschwerden hervorrufe. Möglicherweise kommen Unbeteiligte oder die Sprayer selbst auch mit der Säure in Berührung, bevor sie verbraucht ist. Sie kann dann so schnell in die Haut eindringen, dass der Betroffene zunächst gar nichts davon merkt. „Dies kann beim Kontakt mit Flüssigkeiten, die bis zu 20 Prozent Flusssäure enthalten, der Fall sein“, sagt Goldbach. Erst nach Stunden zeigen sich vielleicht Rötungen, Blasen oder schmerzhafte Verätzungen der Haut. Abwaschen mit kalziumhaltiger Lösung wäre eine Sofortmaßnahme. Dann sollte man schnell einen Arzt aufsuchen.

Paul Janositz

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