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Berlin: „Notarzt sein ist wie Ballett tanzen“

Eine alte Dame gerät unter die U-Bahn, ein Kind isst Hundefutter, ein Mann bringt sich um und ein anderer steckt im Aufzugsschacht fest – immer kommt die Rettungsärztin. Ein Ausschnitt aus ihrem Leben. Und ein Blick auf Berlin aus einem ganz anderen Winkel

Die Notärzte vom Virchow-Klinikum residieren in einem alten Wasserturm. Groß, kahl und kalt liegen die Räume, im Aufenthaltsraum zwei abgewetzte braune Sofas auf verschrammtem Linoleum, der Fernseher läuft. Dann kreischt der Pieper durch die Stille. Er sieht aus wie ein Radiowecker, und auf dem Display erscheinen Einsatznummer, Adresse und ein Stichwort: „Bewusstlosigkeit“ und „Atemnot“. Das Dreierteam stürzt los: ein Notarzt und zwei Rettungsassistenten der Feuerwehr.

Jola Gloza hat zum Glück jetzt dienstfrei. Sie ist die Chefin des Stützpunktes, die Leitende Notärztin, eine stabile kleine Frau, die Haare blond und kurz, die grünen Augen zurzeit etwas gerötet, nach zwölf Stunden Dienst. Sie spricht schnell, erzählt eindrücklich, lacht viel.

Vor einigen Wochen hatten wir Jola Gloza auf dieser Seite schon einmal vorgestellt, als „Mitarbeiter der Woche“. Sie hat damals so viele spannende Geschichten erzählt, dass sie in die kleine Rubrik gar nicht hineinpassten. Also hat Jola Gloza angefangen, Erlebnisse zu sammeln für einen größeren Ausschnitt aus ihrem Leben: typische Tage und außergewöhnliche, große Dramen und kleine. Das Ergebnis: ein Blick auf Berlin aus einem ganz anderen Winkel. Hier ist er.

* * *

23. November 2005

Frühmorgens. Ein elfjähriger Junge ist in der Schule gestürzt und hat sich den Unterarm gebrochen. Normalerweise ist das noch kein Fall für den Notarztwagen, so was versorgt eigentlich der Rettungswagen, der ohne Arzt unterwegs ist. Aber der Junge will sich nicht anfassen lassen vor Schmerzen. Kein Wunder: Der Bruch hat sich um fast zehn Zentimeter verschoben! Armer Kerl. So blassschnäbelig. Schmerzmittel gegeben, Unterarm gerade gezogen. Der Rettungswagen bringt ihn ins Krankenhaus.

Neun Uhr 24. Ein Mann, 54, sitzt tot in voller Leichenstarre in seinem Sessel. Er hatte ein Mundbodenkarzinom, einen Tumor im Mund. Seine Schwester hat ihn gefunden. Es muss furchtbar gewesen sein. Die letzten Tage hatte er nur noch geschrien, er hat es kaum noch ausgehalten. Sie auch nicht. Sie erzählt, am Tag zuvor hatte er so verzweifelt Lust auf ein Bier; man hatte ihn seit Wochen nur noch über Zugänge ernährt. Die Flasche steht unangerührt vor ihm.

Später noch ins Gericht an der Turmstraße. Ein Richter hat uns alarmiert. Sein Angeklagter ist im vollen Drogenentzug. Der Richter will wissen, ob ich ihm was geben kann, damit er aussagefähig wird. Nein!

15 Uhr. Eine 17-Jährige hat einen Asthmaanfall. Die Mutter bittet, die Tochter nicht ins Krankenhaus mitzunehmen. Sie darf jetzt nicht ausfallen. Sie hat doch gerade erst eine Lehrstelle gefunden.

25. November

Acht Alarme in zwölf Stunden. Routinefälle. Bronchitis, Herzrhythmusstörungen, Lungenemphysem, Schlaganfall, Asthma, Angina Pectoris. Langweilig? Gar nicht. Ich finde es immer ungeheuer spannend, in den wenigen Minuten, die wir haben, eine tragfähige Beziehung zum Patienten herzustellen. Es sind nicht die dramatischen Rettungen, die uns zufrieden machen, sondern der reibungslose Ablauf. Notarzt sein ist wie Ballett tanzen, da sitzt jede Bewegung. Mein Passmann, wie wir ihn nennen, verantwortlich für alle Notfallrequisiten, die man so braucht, wenn wir in eine Wohnung gehen, der Mann also ist völlig verschmolzen mit dem Koffer, er weiß im Voraus, was ich brauche und reicht es mir stumm. Es ist ein sehr ästhetisches Arbeiten.

Einer der nächsten Tage

Meine Lieblingsgeschichte. Der Pieper sagt: „Person unter Zug“, U-Bahnhof Heidelberger Platz. Ein alte Dame ist unter die U-Bahn geraten, sie liegt unter der Achse des zweiten Wagens. Furchtbar. Und es ist ein Bahnhof ohne Kehle, also ohne Rinne neben den Gleisen, wo wir hätten entlangkrabbeln können. Ich sage dem U-Bahnfahrer: Es geht nicht anders, Sie müssen noch einmal drüberfahren, er schreit Nein!, ich schreie, Sie müssen! Dann tut er es doch. Ich springe dann auf die Gleise, verletze mich noch, schneide ihr den dicken Mantel vom Körper – und sie hat nichts! Weniger als ich. Die Jungs tragen sie auf einer Vakuummatratze und mit Halsmanschette auf den Bahnsteig hoch, ich untersuche sie noch einmal. Wirklich: nichts!

Ein Unfall. Und wieder mal ein Patient mit Totstellreflex. Manchmal tut einer so, als sei er bewusstlos. Komisch finde ich das immer. Wieso wohl? Aus Scham? Ich sehe das natürlich sofort, an den Wimpern, am feinschlägigen Tremor. Ich spiele dann mit, bis der Patient im Wagen liegt, irgendeinen Grund wird er ja haben, aber dann sage ich: So, jetzt machen Sie aber die Augen wieder auf. Manchmal reicht es schon, wenn ich ihm ins Ohr kichere.

27. November

Ein 30-Jähriger mit einem Asthmaanfall. Es ist sehr schwer, jemanden nach Luft ringen zu hören, zu sehen, wie die Augen ganz groß werden, mitzuspüren, dass er Todesangst hat…

Eine Notverlegung. Große Ärgernisse. Dann muss jemand in eine andere Klinik verlegt werden, und dafür entblößen wir dann unseren Stützpunkt. Und Geburten – auch schlimm. Davor haben wir alle Manschetten. Wer von uns hat denn schon Geburten genug gemacht, um zu wissen, ist das alles richtig? Wo ziehen, wo drücken?

5. Dezember

6 Uhr 30. Haftanstalt. Ein Häftling hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, das Blut hat er in einen Eimer abgeleitet. Wir finden ihn unterkühlt, er hat da wohl länger gesessen und gehofft, zu sterben. Er wird mit Fußfesseln ins Krankenhaus gebracht: ein Eierdieb war er wohl nicht.

9. Dezember

19 Uhr 30. Ah, eine Hypoglykämie. Unterzuckerung. Das sind meine Lieblingspatienten. Das ist immer wie Wunderheilung. Man gibt ein wenig Zucker intravenös, und sofort schlagen sie die Augen wieder auf, ganz verwundert. Alte Damen freuen sich dann immer, dass so viele junge Männer im Raum sind.

21 Uhr 30. Ein Mann mit Polytraumata. Auf der Straße des 17. Juni hat ihn ein Auto erfasst, sein Körper hat die Windschutzscheibe total zertrümmert. Mehrere Unterschenkelfrakturen, die alle gerade gezogen werden müssen und ein Skrotalhämatom. Hoden gequetscht, wenn man so will. Meine Jungs leiden mit, die sehen so was nicht gerne.

Eine Nacht ohne Pflegeheim-Alarm. Wir fahren nachts oft von Heim zu Heim. Das Personal scheint schon hilflos, wenn nur ein Blasenkatheter verstopft ist. Der alte Mensch schreit dann vor Schmerz, und der Nachtdienst kann nichts machen. Dann wechseln wir eben auch Blasenkatheter. Manchmal begleiten wir auch Sterbende zu Hause. Aber in der Großstadt gehen viele damit nicht gut um. Da stirbt einer schon lange, es ist fast zu Ende – und die Angehörigen verlieren die Nerven und wollen, dass er doch noch in die Klinik kommt. Ich versuche dann zu helfen, ermutige sie aber, das zusammen durchzustehen.

Einer der nächsten Tage

Eine alte Dame ruft an und sagt, die Enkelin habe aus dem Hundenapf gegessen. Nicht schlimm, sage ich. Doch, ruft sie. Der Hund bekommt doch Digitalis – Herzmittel! Und zwar in vierfach höherer Dosierung als beim Menschen. Das Kind scheint sich normal zu benehmen. Trotzdem: ins Krankenhaus.

Der Tag der Kinder. Ein kleiner Junge hat sich mit Sekundenkleber einen Fuß am Boden festgepappt. Da hilft nur Wasser und Warten. Die Feuerwehr stemmt ihm eine Sohle aus dem Boden. Er heult. Und wischt sich mit dem Kleberfinger über die Augen. Da ist auch noch ein Auge zu.

20. Dezember

Nasenbluten. Wirklich kein Fall für den Notarzt, aber wenn ich schon mal da bin… Drei Minuten Nase zuhalten.

Einer der nächsten Tage

Im Sonycenter steckt in der 22. Etage eine Frau im Aufzug fest. Der Techniker versucht sie zu befreien, er steigt in den Schacht – und plötzlich wird sein linker Arm in eine Trommel reingezogen, bis zum Ellbogen. Er blutet sehr, ist schweißüberströmt, redet aber noch mit mir. Machen Sie schnell, sagt er. Ich muss ihm eine Narkose geben, um ihn von den Schmerzen zu erlösen, während er da auf dem Vorsprung steht, aber ich kann erst helfen, nachdem er in einem Hosengurt steckt, damit er dann nicht zusammensackt und am verletzten Arm hängt. Die Jungs stützen ihn derweil von unten. Als er anfängt zu erbrechen, läuft alles über sie drüber, aber sie zucken nicht einmal.

2. Januar 2006

Ein junger Mann ist in den Keller gegangen. Er hat kein Licht gemacht. Er hat sich eingesperrt. Und dann einen der Verschläge angezündet. Er ist jämmerlich erstickt. Reanimation. Klappt gerade so. Es ist solch eine seltsame Art, Selbstmord zu begehen, dass wir die Kripo bitten, den Fall zu untersuchen.

3. Januar

Herr Sänger hat gerade eine Flasche Rotwein vorbeigebracht. Herr Sänger ist der erste Mensch, bei dem ich das Gefühl hatte: Jetzt habe ich wirklich einem Menschen das Leben gerettet. Komisch, nicht? Vielleicht, weil das Schicksal so sehr mitgespielt hat. Es war vor genau einem Jahr, und ich hatte schon frei. Ich fahre aus der Klinik auf die Seestraße und sehe da diesen Mann auf dem Mittelstreifen sitzen. Ich denke, was sonnt der sich bei minus sechs Grad? Ich fahre weiter, aber es kommt mir so komisch vor, dass ich umdrehe. Kann ich helfen? frage ich. Nein, sagt er noch, dann kippt er mir schon tot vor die Füße. Herzinfarkt. Ich also mit einer Hand Druckmassage, mit der anderen das Handy. Geht nicht. Auch das noch. Eine junge Frau steigt aus ihrem Auto, ich zeige ihr, was sie machen muss, wir machen zusammen weiter mit der Druckmassage, bis unser Notarztwagen kommt. Fast eine Stunde wird Herr Sänger vor Ort reanimiert. Seitdem bin ich bei ihm öfter mal zum Kaffee eingeladen. Er ist wirklich etwas Besonderes für mich. Es ist selten, dass ich Kontakt behalte zu einem meiner Patienten.

aufgezeichnet: rcf

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