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Berlin: Österreichische Botschaft: "Die übernationale Idee gewinnt wieder Gestalt" - Wolfgang Schüssel im Interview

Wolfgang Schüssel (56) ist seit Februar vergangenen Jahres österreichischer Bundeskanzler. Der ÖVP-Politiker war von 1995 bis 2000 Außenminister und Vizekanzler.

Wolfgang Schüssel (56) ist seit Februar vergangenen Jahres österreichischer Bundeskanzler. Der ÖVP-Politiker war von 1995 bis 2000 Außenminister und Vizekanzler. Schüssel wurde in Wien geboren. Der studierte Rechtswissenschaftler hat eine Vorliebe für Architektur.

Die Eröffnung des neuen Gebäudes der österreichischen Botschaft in Berlin, in einem wiedervereinigten Deutschland, Herr Bundeskanzler, ergibt eine Begegnung Ihres Landes mit Deutschland, die so intensiv, auch so geschichtsträchtig beiden Seiten in Bonn nicht abverlangt wurde. Wird das Wirkungen für das Verhältnis der beiden Länder haben?

Ich bin nicht sicher, ob alle sich der Meta-Bedeutung dieses Vorgangs bewusst sind. Es ist jedenfalls ein Wechsel, der einerseits das geographische Schwergewicht verändert. Andererseits schließt der Standort in Berlin, ob Absicht oder nicht, an das frühere Berlin an. Das wird auch die Beziehungen der Völker beeinflussen. Es wird viel davon abhängen, wie behutsam jetzt die Repräsentanten der bundesdeutschen Regierung in Berlin dies aufgreifen und eine Kontinuität mit der Bonner Republik sicherstellen können. Wolfgang Schäuble, Helmut Kohl haben das verstanden, zu bestimmten Zeitpunkten auch Gerhard Schröder. Das gibt Hoffnung.

Eine neue Botschaft in Berlin. Hört da der Österreicher noch durch: Preußen, Königgrätz, Reichshauptstadt? Andererseits hat Berlin immer auch eine grosse Anziehung auf österreichische Künstler und Intellektuelle gehabt, vor allem in den zwanziger Jahren. Österreich in Berlin: Ein Stachel im beiderseitigen Verhältnis? Oder eine Herausforderung?

Ausschließlich eine positive Herausforderung! Berlin ist eine Weltstadt, die auf dem Weg ist. Anders als Bonn, das eher nach Westen und Süden sah, blickt es nach dem Osten und hat eine norddeutsche Färbung. Das wird seine Bedeutung bekommen, aber Preußen ist das nicht. Es wird etwas anderes sein. Deshalb war es mir auch ganz wichtig, dass mit dieser Botschaft - ich war ja Außenminister, als über sie entschieden wurde - ein Zeichen gesetzt wird.

Es ist ja ein auch architektonisch herausragender Bau geworden ...

Ja, das wollte ich so. Keine Botschaft aus dem Ikea-Katalog. Österreich sollte sich in Berlin selbstbewusst präsentieren und den Wettbewerb mit den anderen aufnehmen.

Das deutsch-österreichische Verhältnis ist weitgehend problemlos, aber von Zeit zu Zeit erlebt es massive Wetterstürze. Die Affäre Waldheim war ein älterer Fall, Ihre Koalition mit der Partei von Jörg Haider und die EU-Sanktionen der jüngste. Ist die politische Kultur Österreichs so anders als in Deutschland? Ist sie "rechter"?

Sie ist anders, aber nicht im Sinne, dass Österreich rechter ist. Das ist Blödsinn. Österreich war 30 Jahre lang mehrheitlich regiert von Sozialdemokraten, die linker waren als die SPD unter Willy Brandt, unter Helmut Schmidt oder auch Gerhard Schröder.

Die SPÖ war ideologischer, stärker in der alten Partei-Tradition...

Auch altmodischer, strukturkonservativer. Aber Österreich ist in der Tat anders. Bei uns werden Konflikte nicht so offen ausgetragen, sie sind aber genau so präsent wie in der Bundesrepublik. Wir sind nicht besser, aber die Atmosphäre, das Konsensklima ist stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik. Das hat auch einen Preis. Der war sehr hoch. Lang war bei uns das Lieblingsspiel Mikado: wer sich zuerst bewegt, verliert.

Wenn es auch nicht wirkliche Probleme zwischen Österreich und Deutschland gibt, so gibt es doch unübersehbar Empfindlichkeiten. Fühlen sich die Österreicher den Deutschen unterlegen? Sind sie gar mit Minderwertigkeitskomplexen geschlagen?

Das Grundmuster der Beziehungen ist natürlich: großer Bruder, kleiner Bruder. Da muss sich der kleinere etwas mehr anstrengen. Aber gleichgültig lassen sich beide nicht. Dazu noch die Sache mit der gleichen Sprache. Sie kennen das Wort: Deutschland und Österreich sind Nachbarn, getrennt durch eine gemeinsame Sprache.

"Österreich liegt Deutschland so nah und wird dadurch übersehen", schrieb der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal, 1915. Hat er da ein altes, inzwischen überholtes Thema angesprochen? Oder ein fortbestehendes Dilemma?

Österreich ist vielschichtiger, als man vielleicht von außen wahrnimmt. Es ist ein kleines Land, acht Millionen Menschen, doch es ist auch eine Idee, und insofern schwingt in ihm mit die Erinnerung an das größere Land, das Österreich einst war. Und eine gewisse Neuauflage dieser mitteleuropäischen Vision zeichnet sich jetzt in der Erweiterung der EU wieder ab.

Die Osterweiterung sozusagen als Wiedergeburt der alten Idee eines übernationalen Zusammenlebens vieler Länder, wie es im alten Österreich-Ungarn praktiziert wurde?

Natürlich ohne jegliche Hegemonie! Auch nicht in einem nostalgischen, rückwärtsgewandten Sinn. Ich denke eher an eine erwachende, regionale Zusammenarbeit ähnlich der der Benelux-Länder oder der nordischen Länder. Diese Idee muss, glaube ich, erst noch begriffen werden. Die Frage ist, ob sie gewollt und dann auch gelebt wird. Aber mir scheint, es macht Sinn, diese jahrhundertelange Gemeinsamkeit in verwandelter Form in Europa wieder zur Gestalt zu verhelfen. Ich empfinde das jedenfalls als sehr spannnend.

Ein anderer österreichischer Autor, Alfred Polgar, hat einmal hintersinnig formuliert: Österreich sei so deutsch, wie die Donau blau ist. Sind die Österreicher Deutsche? In welcher Weise sind sie noch deutsch? Sie wollten es einmal werden, da durften sie es nicht - nach dem 1. Weltkrieg, wegen des Verbots der Siegermächte. Sie wurden es einmal, da wollten sie es hinterher am liebsten nicht gewollt haben, 1938, beim Anschluss an das Dritte Reich. Wo ist im österreichischen Selbstverständnis Deutschland platziert?

Das ist vorbei, das ist Geschichte. Heute gibt es niemanden mehr, der in irgendeiner Weise mit einem Anschlussgedanken liebäugelt. Wir wollen selbstständig sein, wir fühlen uns souverän und sind stolz auf unsere Heimat. Eine Diskussion über den Stolz, Deutscher zu sein, die bei ihnen solche Emotionen aufwirbelt, würde hier auf blankes Unverständnis stoßen.

Österreich ist in der Nachkriegszeit seinen eigenen Weg gegangen. Dafür steht der Staatsvertrag von 1955, der Österreich Souveränität um den Preis der Neutralität verschaffte. Die Blöcke sind vergangen, Österreich ist in der EU. Was sind die alten Essentialien der österreichischen Politik noch wert?

Sie haben nur noch historische Bedeutung. Heute gewinnt für Österreich die Solidarität in Europa deutlich an Boden, um so mehr als sich eine europäische Verteidigungs- und Außenpolitik abzeichnet. Diesen neuen Herausforderungen müssen wir uns stellen.

Muss zu der Integration in Europa nicht auch die Integration in die Nato gehören? Ein Einsatz in Mazedonien, wie er gegenwärtig debattiert wird, ginge ja nur auf dieser Basis.

Meine Meinung ist ja bekannt. Es macht keinen Sinn, eine eigenständige europäische Verteidigungstruktur aufzubauen, die eine Duplizierung der Nato-Strukturen ist. Wenn die EU handelt, dann können wir mithandeln, dazu haben wir schon die Verfassung geändert, dann steht Solidarität vor der Neutralität. Wir würden mithandeln, wenn es Beschlüsse gibt.

Würde so etwas in der Bevölkerung mitgetragen, bei der speziellen Lage, in der sich Österreich befindet? Metternich, ihr großer Staatskanzler, befand, dass gleich hinter seinem Garten der Balkan beginne. Österreich hat immer, freiwillig oder notgedrungen, intensive Beziehungen zum Balkan gehabt.

Sie werden keinen Politiker auf dem Balkan finden, der ihnen nicht bestätigt, dass die Österreicher auf die Souveränität und Unabhängigkeit dieser Länder gesetzt haben, als viele noch die Nase gerümpft haben. Aber ich sage auch: Eine Lösung, einen dauerhaften Frieden, wird man nicht mit Gewehren und Kanonen herstellen können. Das Grundproblem ist überall gleich: Wie kann ein Gesamtstaat mit einer Minderheit, die in ihrer Region eine Mehrheit ist und ihrerseits wiederum mit Minderheiten, die vielleicht im Gesamtstaat die Mehrheit sind, gut, richtig, fair und balanciert umgehen. Da können wir manche Lösungsvorschläge einbringen. Ich bin dafür, dass wir heute in Kosovo, Mazedonien oder Bosnien, eine gewisse militärische Präsenz haben, aber das sind Übergangsregelungen. Was jetzt wichtig ist, sind eher Beispiele gelebter guter Nachbarschaft. Wie geht man wirklich miteinander um, mit einer komplizierten Sprachenfrage, mit institutionellen Balancen. Da sind die Südtiroler ein excellentes Beispiel. Und das haben wir mit den Italienern und Südtirolern ausgehandelt.

Greifen Sie damit auf Ansätze zurück, die Österreich-Ungarn vor dem ersten Weltkrieg versucht hat? Sie sind allerdings zu unser aller Unglück nicht mehr zum Zuge gekommen.

Die sind nach wie vor aktuell. Das war ja auch der Erfolg der österreich-ungarischen Monarchie. So lange die Völker einander respektiert haben, auch die Grenzen respektiert haben, die sie einander setzen, so lange ist es ja gut gegangen. Wenn man dann, von heute aus gesehen, den Ausbruch des ersten Weltkriegs Revue passieren lässt, dann ist das geradezu gespenstisch ...

...aber lehrreich ist es auch.

Man könnte auf viele dieser positiven Beispiele zurückgreifen, so auf die mehrsprachige Kultur des alten Österreich-Ungarn. Um zu unserer Botschaft zurückzukommen: Deren Chefs waren über Jahrzehnte Ungarn. Wäre so etwas in der EU üblich, wären wir einen grossen Schritt weiter.

Die Eröffnung des neuen Gebäudes der &ou

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