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Pandemie: Hohe Dunkelziffer bei Schweinegrippe

Zahl der Infizierten in Berlin sprunghaft angestiegen. Experten gehen von extrem hoher Dunkelziffer aus

Von Sandra Dassler

876 Berliner haben sich nachgewiesenermaßen in der vergangenen, der 46. Kalenderwoche, mit Schweinegrippe infiziert – mehr als doppelt so viele wie eine Woche zuvor. Anfang Oktober waren nur 20 Infizierte pro Woche registriert worden, danach stiegen die Neu-Infektionen stetig an. Und die wahre Zahl dürfte weitaus größer sein. „Erfasst werden nur die labordiagnostisch bestätigten Fälle“, sagte die Sprecherin der Senatsgesundheitsverwaltung, Marie-Luise Dittmar, am Donnerstag dem Tagesspiegel. Eine Schätzung der tatsächlich Erkrankten könne sie nicht vornehmen, weil es dazu eines vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgegebenen Schlüssels bedürfe.

Doch dort wollte man sich gestern ebenfalls nicht auf Schätzungen einlassen. „Wir haben uns in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern entschieden, die Zahl der Infizierten nicht zu schätzen“, sagt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. „Dass die Dunkelziffer der mit dem Schweinegrippe-Virus H1N1 Infizierten in ganz Deutschland und auch in Berlin deutlich höher liegt, ist aber klar. Nicht jeder, der sich infiziert, wird krank. Nicht jeder, der krank wird, geht zum Arzt. Nicht jeder, der zum Arzt geht, wird getestet.“

Die Zahl von knapp zweieinhalbtausend Menschen, die in Berlin bisher nachgewiesenermaßen an Schweinegrippe erkrankten, ist daher unrealistisch. Viele Ärzte, aber auch die Gesundheitsbehörden, gehen von ganz anderen Relationen aus. So schätzt der Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes von Mitte, Matthias Brockstedt, dass in seinem Bezirk bereits jedes zweite Schulkind infiziert ist. „Vielleicht sind es auch etwas weniger oder mehr – jedenfalls sind schon sehr viele Kinder mit dem Virus in Berührung gekommen“, sagt er.

Als bedrohlich empfindet Brockstedt die hohe Zahl der Infizierten aber nicht. Eher im Gegenteil: „Die neue Grippe wird gerade unter Kindern unheimlich schnell übertragen, aber so lange sie so mild wie bisher verläuft, droht keine Katastrophe.“

Wohl auch deshalb lehnt die Berliner Schulverwaltung im Normalfall ab, Schulen zu schließen. Der andere Grund ist, dass ein Schüler, der Krankheitssymptome zeigt, das Virus bereits ein bis zwei Tage zuvor übertragen und andere längst angesteckt haben kann. „Die Schule dann zu schließen, bringt nichts mehr“, sagtBrockstedt, der oft empörte Anfragen von Eltern beantworten muss, die nicht verstehen, warum sie ihre Kinder nicht zu Hause lassen können, wenn in der Klasse ein Schweinegrippe-Fall auftritt. „Nur wer krank ist, darf zu Hause bleiben, für gesunde Kinder gilt die Schulpflicht“, sagt er. „Natürlich werden Ausnahmen genehmigt, wenn ein Kind oder ein anderes Familienmitglied besonders gefährdet ist.“

Für Aufregung sorgt bei vielen Eltern auch die Tatsache, dass ihre Kinder nicht auf H1N1 getestet werden. Dabei wurden die Richtlinien dafür schon im August geändert – wohl auch, um den Ansturm auf die Labore und die Kosten in Grenzen zu halten. Der Nachweis von H1N1 durch einen sogenannten PCR-Test kostet laut Brockstedt zwischen 120 und 160 Euro. Hinzu kommt, dass Ärzte nach eigenen Aussagen die Kosten dafür nur noch bei medizinischer Notwendigkeit von den Kassen erstattet bekommen. Außerdem müssen sie seit vergangenen Sonnabend nur noch Todesfälle durch Schweinegrippe melden. Zuvor waren auch Krankheits- und Verdachtsfälle meldepflichtig.

Manche vermuten nun, dass alle diese Maßnahmen dazu dienen, die wahren Ausmaße der Schweinegrippe zu verschleiern und dass die Schulen deshalb nicht geschlossen werden, weil man dann konsequenterweise auch Massenveranstaltungen verbieten und Supermärkte dichtmachen müsste. Im Internet kursieren Zahlen über dramatische ökonomische Schäden, die befürchtet werden. Vom Bund über das Land bis zu den Bezirken beteuern die Vertreter der Behörden aber immer wieder, dass sie ihre Strategie lediglich an den vergleichsweise harmlosen Verlauf der Schweinegrippe angepasst haben.

Viele Berliner machen derzeit allerdings die Erfahrung, dass die Schweinegrippe keineswegs immer mild verläuft. „Diese Krankheit ist alles andere als harmlos“, erzählt Eva Müller, eine Mutter aus Prenzlauer Berg: „Meine 13-jährige Tochter ist mit H1N1 infiziert, hat seit Sonntag durchgängig hohes Fieber, ist total matt und erschöpft. Wir machen uns große Sorgen um sie. Und unsere Kinderärztin erzählt, dass vor allem viele Jugendliche so schwer erkranken.“

Matthias Brockstedt versteht die Ängste der Eltern, rät aber zu Besonnenheit. „Das Virus ist wie erwartet extrem ansteckend“, sagt er, „aber es ist zum Glück in den allermeisten Fällen nicht tödlich. Was die rasche Verbreitung anbelangt, haben wir zweifellos eine pandemische Situation. Deshalb ist es unverantwortlich, wenn immer wieder selbst ernannte Experten ihre Verschwörungstheorien verbreiten und die Bevölkerung mit widersprüchlichen Aussagen beispielsweise zur Impfung verunsichern.“

Brockstedt ist immer wieder verwundert, wenn beispielsweise Betreiber von Senioren- und Pflegeheimen erst jetzt fragen, ob sie vielleicht ihr Personal impfen lassen sollten. „Man könnte fast meinen“, sagt Brockstedt, „dass sie noch nie etwas von Schweinegrippe gehört haben.“

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