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Ganzheitlich. Zur Menschenwürde gehört auch, Persönlichkeit und Biographie eines Pflegebedürftigen wahrzunehmen.

© D. Kamann/dpa

Pflege in Altenheimen: „Scham ist die Wächterin der Würde“

Wenn man Gefühle verdrängt, kehren sie zurück - häufig als Gewalt. Die Pädagogin und Krankenschwester Ursula Immenschuh über einen gesünderen Umgang mit Scham in der Pflege.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, verkündet Artikel eins unseres Grundgesetzes. Wie ist es um die Menschenwürde in deutschen Pflegeheimen bestellt?

In deutschen Pflegeheimen wird die Würde der Klienten, aber auch der Pflegenden ständig angetastet. Aber was meinen wir mit dem abstrakten Begriff der Menschenwürde eigentlich? Viele verstehen darunter, dass anderen kein Leid zugefügt wird, sie also nicht gefoltert, terrorisiert, ermordet werden. Vom Alltag in deutschen Pflegeheimen sind solche Verbrechen natürlich weit entfernt. In der Pflege brauchen wir einen differenzierteren, feinfühligeren Würdebegriff, denn die Würde eines Menschen fängt schon in scheinbar kleinen Alltagssituationen an: Werden Klienten wirklich gesehen, also mit ihrer Biografie und in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen oder werden sie nur gewaschen, Essen und Medikamente verabreicht? Wird ein Klient, wenn er es wünscht, von einem männlichen Pfleger im Intimbereich gewaschen? Ermöglicht der Dienstplan den Pflegenden, Pausen einzuhalten, oder zwingt er zum Akkordschuften? Legen wir diesen Würdebegriff als Maßstab an, ist es in vielen Heimen schlecht um die Menschenwürde bestellt.

Wie sieht eine würdevolle Pflege aus?
Menschenwürdige Pflege beherzigt die vier Grundbedürfnisse: Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und persönliche Integrität – und zwar für alle Beteiligten. Wenn Pflegende gern zur Arbeit kommen, nehmen sie ihre Klienten anders wahr, interessieren sich für ihre Biografien und Bedürfnisse. Eine Künstlerin wird dann ganz anders gepflegt als ein Handwerker. Damit Pflegekräfte die nötige Aufmerksamkeit und Wertschätzung schenken können, muss auch ihre Würde berücksichtigt werden. Wenn sie nur hetzen, lässt sich das nicht machen. Pflegende werden mit heftigen Situationen und Gefühlen konfrontiert: Sterben, Nacktheit, Überschreitungen der eigenen Schamgrenzen. Damit sie das nicht überfordert, brauchen sie Rückzugsräume und Supervisionen, in denen sie mit geschulten Psychologen über ihre eigenen Ängste sprechen können. Nur wenn wir gut zu uns selbst sind, können wir gut zu anderen sein.

In Ihrem Buch „Scham und Würde in der Pflege“ schreiben Sie, Scham sei die „Wächterin“ der Würde. Welchen Schamgrenzen sind Sie als Krankenpflegerin begegnet?
Scham ist kaum ein Thema in der Pflege. Ich selbst dachte früher, dass ich mich nicht schämen würde. Erst als ich mich mit meinem Kollegen Stephan Marks mit dem Thema wissenschaftlich beschäftigte, wurde uns klar, das hier ein großes Tabu herrscht. Eine kalifornische Professorskollegin habe ich einmal gefragt, welche Rolle in Amerika Scham in der Pflege spielt und ob die Ausbildung das thematisiert. Aber es wird einfach weggewischt. Sie antwortete ernsthaft: „We don’t have shame here.“ Und auch hierzulande auf Seminaren, die ich zum Thema Scham gebe, herrscht oft Ahnungslosigkeit. Wenn ich frage, wann sich die Pflegenden das letzte Mal geschämt haben, können sich viele kaum erinnern. Zum Schluss des Seminars erkennen viele: sie schämen sich eigentlich jeden Tag.

Woher kommt diese Verleugnung?
Scham ist eines der schmerzvollsten Gefühle, eine existenzielle Bedrohung. Unser Reptilienhirn schaltet sich ein, das uns auf unbewusste Schutzmechanismen zurückwirft – wir greifen an, stellen uns tot oder flüchten. Einer peinlichen Situation erst einmal zu entfliehen, kann durchaus sinnvoll sein, um den Betroffenen nicht zu überfordern und wieder klar denken zu können. Wird diese Abwehrstrategie allerdings zu häufig angewandt und damit zur Routine, findet keine Bewältigung mehr statt. Viele Pflegekräfte spüren die eigene Scham nicht mehr, kanalisieren sie in Aggressionen oder sogar Gewalt. Eine von mir geschätzte und sonst sehr zugewandte Kollegin verabreichte einer Klientin ein Medikament versehentlich vaginal statt rektal – und wurde zum Gespött der Kollegen. Wenige Tage später höre ich die Pflegerin die ihr anvertraute Frau übel beschimpfen. Aus Scham wurde Gewalt.

Schämen wir uns zu häufig, findet keine Bewältigung mehr statt

Ganzheitlich. Zur Menschenwürde gehört auch, Persönlichkeit und Biographie eines Pflegebedürftigen wahrzunehmen.
Ganzheitlich. Zur Menschenwürde gehört auch, Persönlichkeit und Biographie eines Pflegebedürftigen wahrzunehmen.

© D. Kamann/dpa

Weil wir unsere eigene Scham tabuisieren, verletzen wir die Würde anderer. Sollte das nicht in jedem Lehrplan stehen?
Viele Pflegekräfte haben nie gelernt, mit ihrer eigenen Scham professionell umzugehen. Heute rückt der Umgang mit den eigenen Gefühlen zumindest in der Ausbildung stärker in den Fokus. Meine Studenten sind sehr aufgeschlossen und nehmen sich selbst sehr bewusst wahr. Das eigentliche Problem liegt in der Praxis.

Keine Zeit für Gefühle?
Ja, in der Pflegeroutine geht Selbstreflexion oft unter. Sind Dienstpläne auf Kante genäht, bleibt meist nur ein Gespräch zwischen Tür und Angel, um eigenen Erfahrungen Luft zu machen. Das ist aber keine echte Psychohygiene. Dazu bedürfte es professioneller Fallbesprechungen. Die sind in vielen Pflegeheimen jedoch Mangelware, oft um Kosten zu sparen.

In Berlin kommen immer mehr Menschen mit türkischem oder russischem Migrationshintergrund und einer ganz anderen Schambiografie und -sozialisation ins Pflegealter. Ist die Pflege darauf eingestellt?
Es gibt zahlreiche Ratgeber für die Pflege von Muslimen. Solche Werke bergen aber auch die Gefahr, zu vereinfachen und zu stereotypisieren: Muslime seien so und so, deshalb müsse man dieses und jenes machen. Dabei können andere Persönlichkeitseigenschaften und biografische Erlebnisse genauso wichtig wie die Religion für den Klienten sein. Für eine kultursensible Betreuung müssen Pflegekräfte vor allem ihre eigenen Normalitätsvorstellungen hinterfragen, also nicht davon ausgehen, dass jeder so fühlt wie sie. Eine grundsätzlich fragende Haltung gegenüber den anvertrauten Menschen ist die halbe Miete für eine selbstbestimmte Pflege.

Ursula Immenschuh
Ursula Immenschuh

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Wie viel Selbstbestimmung ist in der Pflege überhaupt möglich?
Selbstbestimmung ist ein zentraler Bestandteil persönlicher Integrität und damit der Menschenwürde. Nur wer nach seinen eigenen Werten leben kann, wird als Mensch respektiert. Oft führt das Recht auf Selbstbestimmung aber auch zu einem ethischen Dilemma, wenn es mit einem anderen Wert kollidiert. Etwa wenn eine Frau sich nicht waschen lassen will, weil sie im Krieg vergewaltigt wurde oder die eigene Nacktheit für sie sehr schambehaftet ist. Hier steht die Selbstbestimmung des Klienten der Fürsorgepflicht des Pflegenden gegenüber. In diesem Fall könnte das Waschen in Badekleidung eine akzeptable Lösung sein. Aber solche ethischen Dilemmata lassen sich nicht immer auflösen. Egal, wie man sich dann entscheidet – es tut weh. In solchen Situationen ist es wichtig, die Pflegenden nicht alleinzulassen, sondern den bestmöglichen Weg im Team zu besprechen und dafür auch Rückhalt zu bekommen.

Erlauben die Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen überhaupt eine würdevolle Pflege?
Es gibt viele engagierte Pflegekräfte, die sich trotz Arbeitsverdichtung Zeit für das Gespräch nehmen. Aber viele können sich, obwohl sie Vollzeit und hart arbeiten, keine Familie leisten. Das ist – lassen Sie es mich so sagen – eine Schweinerei! Pflegenden wird viel abverlangt und nur wenig zurückgegeben. Auf Dauer verbrennt das einen Menschen. Das ist auch menschenunwürdig. Pflegeheime müssen ihre Angestellten vernünftig bezahlen und die Politik dafür Rahmenbedingungen schaffen. Deutschland ist Europas Schlusslicht bei der Pflegequalität. Kein Wunder, wenn massiv Stellen abgebaut werden, die Belastung steigt, während gleichzeitig Bevölkerung und Pflegekräfte altern. Dass in Deutschland neun Jahre Schulbildung für eine Pflegekraft genügen, zeigt, dass Pflege als bloßes Handwerk verstanden wird, obwohl Pflegekräfte menschlich wie wissenschaftlich hohe Anforderungen erfüllen müssen.

Ursula Immenschuh, Stephan Marks: Scham und Würde in der Pflege, Marbuse-Verlag, 114 Seiten, 16,90 Euro. Immenschuh hat selbst lange als Krankenpflegerin gearbeitet. Seit dem Jahr 2004 lehrt sie als Professorin für Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft an der Katholischen Hochschule in Freiburg.

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