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Berlin: Philipp Graf von Koenigsmarck (Geb. 1969)

"Flieg mit mir nach Thailand"

Gewundene Treppen führen hinauf in den zweiten Stock auf einen innen liegenden Balkon, der Blick über die Brüstung fällt in einen dunklen Hof, die Wohnungstür öffnet sich: hohe, helle Räume, alte Blechschilder mit Kakao- und Kaffeereklame an den Küchenwänden, ein endloser Flur, vorbei an Kinderzimmern mit Hochbetten, Holzdielen, ein Zimmer mit einem langen Tisch, feuerroten Amaryllis darauf, einer enormen Weltkarte gegenüber, Rahmen mit Konzerttickets, Prince 1990 in der Waldbühne für 43 Mark, die Stones in Weißensee für 59, bodenlange bunt bedruckte Vorhänge an den Fenstern, eine Tannengirlande vom letzten Weihnachten an der Tür, daneben ein Plakat, Schulze und Schultze, die Detektive aus „Tim und Struppi“, laufen über den Mond.

Philipp sammelte Schilder, Spiele und Comics. Er arbeitete als Landschaftsgärtner. Er baute während seines Geologiestudiums Konzertbühnen auf. Er eröffnete einen Spielzeugladen. Er brachte Emma und Maja jeden Tag zur Schule und kochte am Abend für sie. Er reiste in die Welt. Er liebte Janina.

„Stellen Sie sich bei Philipp von Koenigsmarck vor“, hatte man ihr an ihrem ersten Arbeitstag als Landschaftsgärtnerin bei der Arbeiterwohlfahrt gesagt. Philipp von Koenigsmark, oh Gott, ein alter, feiner Herr, das fängt ja gut an, dachte sie und lief los. Aber da war kein Herr, sondern ein junger Mann in Jeans, der zwischen den Beeten stand und sie anlachte.

„Flieg mit mir nach Thailand“, sagte er ein paar Monate später zu ihr. Und sie sagte Ja. Emma kam zur Welt und dann Maja. Sie zogen in die große, helle Wohnung am Kaiserdamm, sie eröffneten die „Spielerei“ in der Nehringstraße, sie kauften sich einen Garten am Spandauer Damm, alles gleichzeitig, alles mühelos.

Das Geschäft war in zwei Bereiche aufgeteilt: den vorderen, in dem die neuen Spielsachen lagen und den hinteren für die gebrauchten Dinge, in dem Philipp stand, zwischen Comicheften, Büchern und Hörspielkassetten, Ritterburgen und Playmobil-Landschaften, die er selbst aufgebaut hatte. „Der kann einem im Winter sogar Schnee verkaufen“, sagten die Freunde und verließen den Laden mit mindestens einer Kleinigkeit. Nebenbei arbeitete Philipp weiter als Landschaftsgärtner. Wenn es warm wurde, baute er im Garten den Grill auf und lud zu Sommerfesten. Nie saß er still; er hockte in einem Beet oder streckte sich zu den Ästen eines Apfelbaumes, den Kindern kochte er, was sie sich wünschten, rührte und briet und hörte dabei Musik oder die Fußballergebnisse im Radio. „Die Laune bei euch wird ja heute wieder die beste sein“, spöttelten die Freunde, wenn Hertha wieder torlos vom Feld getrottet war.

Fußball hatte Philipp geholfen, sich durchzusetzen, nachdem die Familie aus der großen, hellen Wohnung am Savignyplatz in einen Neubau in Staaken gezogen war. Sein Zimmer hatte kein Fenster, und wenn er mit seinem Bruder zum Spielen ging, mussten sie aufpassen, dass sie kein blaues Auge bekamen allein wegen ihres Namens. Der „Graf“ und das „von“ hießen aber nicht, dass es genug Geld gegeben hätte. Der Vater saß samstags am Küchentisch, stellte das Radio lauter und verglich die Kreuze auf seinem Tippzettel mit den Bundesligaresultaten. Als er starb, war Philipp acht. Tante Uschi, eine Dame mit Pelzmantel und Federhut, kümmerte sich. Und Oma Rabe. Philipp wechselte auf die Wald-Oberschule in Eichkamp, einem Viertel, in dem Geld vorhanden war. Er schämte sich, seine neuen Freunde zu sich nach Hause einzuladen. Als er es wagte, wollten sie gar nicht mehr gehen. Denn Oma Rabe schmierte Schnittchen, stellte ein Schnäpschen dazu und ließ die Jungs in Ruhe Filme gucken.

Auch Oma Rabe starb. Philipp wohnte zusammen mit seinem Bruder und dann allein, da lebten seine Freunde noch bei ihren Eltern. Er begann zu studieren, er flog nach Asien und Südamerika, er jobbte, er wurde selbstständiger Landschaftsgärtner, er traf Janina.

Der Spielzeugladen lief gut; trotzdem war das Geld knapp. Also entschloss er sich zu einer Festanstellung und absolvierte nebenbei die Meisterschule für Gartenbau. „Philipp war ein richtiger Streber“, erzählt Janina, verdreht ein bisschen die Augen und lacht. „,Ich kann dir heute nicht im Laden helfen’, hat er gesagt, und ich hab geantwortet, dass heute Dienstag und die nächste Prüfung erst Freitag ist. Und als sie dann vorbei war, kam er nach Hause und verkündete stolz: ‚Ich hab’ eine Eins geschrieben.’“

Ende des letzten Jahres begann er, sich matt zu fühlen, sein Körper fieberte, der Rücken schmerzte. Aber Gärtnerrücken sind oft gekrümmt. Irgendwann ging er doch zu einer Untersuchung. Das Blutbild war eine Katastrophe. „Wir saßen vor der Ärztin und hörten diesen Satz: ‚Es gibt keine Möglichkeit.’ Und trotzdem glaubte er, es zu schaffen.“

Sie gab den Laden auf. Pflegte ihn zu Hause in der großen, hellen Wohnung ein halbes Jahr. Im Juni bestiegen sie ein Kreuzfahrtschiff und fuhren durch die norwegischen Fjorde. Philipp fühlte sich wohl. „Sag nicht immer Scheiße“, sagte er, wenn Janina seinen Rollstuhl durch die Gänge schob und über die Schwellen und die Wäschewagen fluchte.

Sie kamen zurück nach Berlin. Zehn Tage später war Philipp tot. Tatjana Wulfert

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