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Pirat Martin Delius im Interview: "Die anderen Parteien sind noch nicht bereit für uns"

Martin Delius, Berliner Piratenabgeordneter, spricht über Unverständnis gegenüber seiner Partei, den Vorwurf der Doppelmoral - und darüber, dass er seine Aufgabe in Berlin als erledigt ansieht.

Herr Delius, Sie sind erst seit einem halben Jahr parlamentarischer Geschäftsführer der Abgeordnetenhausfraktion. Nun wollen Sie dieses Amt aufgeben und sich zum politischen Geschäftsführer der Piraten auf Bundesebene wählen lassen. Haben Sie schon genug von Ihrer Aufgabe in Berlin?

Nein, es macht mir immer noch Spaß. Ich habe aber schon lange mit dem Gedanken gespielt, das Amt abzugeben, weil ich mich auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren wollte. Auch für die Piratenfraktion wäre das meiner Meinung nach kein Problem, es gibt genügend Leute, die diese Aufgabe übernehmen können. Von uns klebt niemand an irgendwelchen Posten.

Betrachten Sie denn Ihre Aufgabe, eine arbeitsfähige Fraktion aufzubauen, als erfüllt?

Wir sind arbeitsfähig, ja. Es ginge natürlich immer noch besser und es gibt auch noch ein paar Sachen, die ich anstoßen möchte, bevor ich das Amt abgebe. Aber die Fraktion wird immer produktiver, jede Woche. Sie funktioniert als Plattform, so dass sich alle Mitglieder beteiligen können und sie erfüllt ihre Funktion so, wie das im Gesetz steht. Ich denke schon, dass die Sachen, die jetzt noch kommen, zum Beispiel der erste Rechenschaftsbericht, ohne Probleme gemeistert werden können.

Kann man nach einem halben Jahr diese Aufgabe so durchdrungen haben, dass man schon die nächste Herausforderung braucht?

Es geht weniger um die nächste Herausforderung. Es geht eher darum, dass ich mich frage, wo ich mehr tun kann. Ich habe das Gefühl, dass die Erfahrungen, die ich in der Piratenfraktion gemacht habe, jetzt ganz eklatant wichtig werden zum Beispiel für den Aufbau anderer Fraktionen. Es ist Wissenstransfer in die Piratenpartei hinein nötig. Das betrifft nicht mehr nur das Saarland, wir haben bald wahrscheinlich auch Fraktionen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Ich glaube, dass ich da als politischer Geschäftsführer der Partei einfach mehr tun kann.

Was würden Sie sich als politischer Geschäftsführer der Piraten vornehmen?

Wir sind jetzt gezwungen, uns zu beeilen. Wir brauchen einen Plan, wie wir eine Bundestagswahl, die spätestens 2013 stattfinden wird, meistern - wie auch immer erfolgreich, aber auf jeden Fall so, dass die Piratenpartei eine Rolle spielt im Wahlkampf. Die Umfragen, die wir jetzt haben, auf denen dürfen wir uns nicht ausruhen.

Was können Sie da beitragen?

Vor allem die inhaltliche Vorbereitung. Ich stehe als Abgeordneter seit einem halben Jahr vor der Aufgabe, eine inhaltliche Bandbreite zu managen und nach außen zu transportieren, die man uns normalerweise nicht zutraut. Das fing an in Berlin im Wahlkampf mit den Wahlprüfsteinen, die wir erarbeiten mussten. Wir haben sie dezentral erarbeitet, aber einer musste das managen. Die inhaltliche Arbeit in der Piratenpartei muss strukturiert werden, gerade mit Hinblick darauf, dass wir ein Wahlprogramm brauchen. Dafür müssen wir die besten Vorschläge der Piraten finden und koordinierter arbeiten.

Sehen Sie hier, wie Anhänger der Piraten eine CDU-Webseite kaperten:

Sie wollen also in drei Bundesländern Fraktionen aufbauen und dazu ein Programm erarbeiten für eine Partei, der viele vorwerfen, sie hätte viel zu wenig Inhalte. Ist das nicht ein bisschen viel für einen einzelnen?

Das ist natürlich keine Aufgabe für einen aus dem Bundesvorstand allein. Das ist eine Aufgabe, die die Piraten übernehmen müssen, wir haben extrem viel inhaltliche Kompetenz in der Piratenpartei. Das Problem ist aber, dass es an kontinuierlichem Engagement in den vielen inhaltlichen Feldern fehlt. Das zu organisieren wird die Aufgabe sein - und dann passiert die inhaltliche Weiterentwicklung sowieso ohne Zutun des Bundesvorstands.

Noch klaffen im Programm große Lücken. Was macht Sie so sicher, dass die Piraten es bis 2013 schaffen können, diese Lücken zu schließen?

Ich bin mir nicht sicher, dass wir das schaffen, und auch nicht, ob wir das wollen. Nichts motiviert mehr als einen Anteil zu haben an der großen Politik. Aber wir sind sicher nicht angetreten, um innerhalb der sechs oder sieben Jahre unseres Bestehens alle Probleme, die in Deutschland existieren, gelöst zu haben. Die Kompetenz, kurzfristig Gesetzesveränderungen zu entwickeln, wird am Ende oft nur mit den Möglichkeiten einer Fraktion zu bewerkstelligen sein, auch wenn die Partei extrem viel dafür tun kann, schnell Input zu liefern.

{Was Martin Delius zum Begriff der Schwarmblödheit sagt}

Was ist Ihr strategisches Ziel für die Bundestagswahl 2013?

Die strategische Maßgabe ist, in den Bundestag einzuziehen, sich vorzubereiten auf die Zeit danach und ein breites Fundament für die realpolitischen Herausforderungen zu legen. Das heißt, dass eine Bundestagsfraktion eine gute Möglichkeit vorfinden muss, sich in der Partei Feedback zu holen für die kurzfristigen Entscheidungen, die sie treffen muss. Dazu gehört auch unser System Liquid Feedback.

Nach dem Wahlerfolg im Saarland werden die Piraten immer öfter nach möglichen Regierungsbeteiligungen gefragt. Wollen Sie, dass Piraten regieren?

Ich will, dass wir uns auf den Weg dahin machen. Wir haben starke und gut abgestimmte Positionen in der Partei, deshalb muss es uns auch wichtig sein, die einmal umsetzen zu können. Im gegenwärtigen parlamentarischen Betrieb ist es leider fast unmöglich, eine Forderung tatsächlich umzusetzen, wenn man in der Opposition ist. Das ist auch etwas, was wir angehen möchten, das können wir aber sehr schlecht aus der Opposition heraus.

Was sind denn diese starken Positionen, die Sie anpreisen - wenn Sie mal die klassischen Piratenthemen und das immer wieder genannte Beispiel der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen außen vor lassen?

Alle unsere Positionen lassen sich auf das Prinzip der offenen Plattform herunterbrechen. Wir möchten, dass die öffentliche Daseinsvorsorge wieder demokratisch kontrollierbar wird. Wir möchten Wahlrechtsänderungen, damit Bürger nicht mehr nur eine Parteiliste wählen, sondern mit ihren Stimmen einzelne Kandidaten unterstützen oder sogar ihre Stimmen auf Kandidaten unterschiedlicher Parteien aufteilen können. Wir fordern die Gleichstellung aller Geschlechter- und Familienbilder. All das wollen wir umsetzen, man tritt ja schließlich an, um zu gewinnen.

Aber das sind doch eher Randthemen und nicht die großen Probleme der Republik.

Genau das ist die Frage. Wenn Wähler andere Prioritäten setzen als die Piraten, dürfen sie eine andere Partei wählen. Das ist der Sinn der Demokratie.

Mit wem wollen Sie regieren, um ihre Vorstellungen umzusetzen?

Ich glaube erstens, dass die anderen Parteien noch nicht so weit sind, dass sie uns eine Regierungsbeteiligung zutrauen würden. Dem liegt sicher ein gewisses Unverständnis zugrunde. Zweitens glaube ich, dass die anderen Parteien noch nicht bereit sind für die Art, wie wir Politik machen, also zum Beispiel für transparente Koalitionsverhandlungen.

Im Saarland gelang den Piraten ihr zweiter großer Erfolg. Sehen Sie hier, wie die Parteien auf die Wahlergebnisse reagierten:

Sie werfen den anderen Parteien Unverständnis vor. Woher nehmen die Piraten das Recht auf diese Überheblichkeit?

Die Erfahrung, dass die anderen uns nicht verstehen, habe ich im Berliner Abgeordnetenhaus gemacht. Die Demokratiedebatte, die die Piraten gerade anstoßen, ist genau so wichtig wie die Inhalte, und da gibt es bei den anderen Parteien noch Unverständnis.

Also haben alle, die das Fehlen von Inhalten kritisieren, Unrecht?

Natürlich haben wir kein Vollprogramm, das ist der Art geschuldet, wie wir unser Programm erarbeiten wollen. Die Konkurrenz sagt, wir haben zu wenig Inhalte, wir sagen, wir haben so viele Inhalte, wie wir für richtig halten. Die Bewertung wollen wir den Wählerinnen und Wählern überlassen.

Aber gehört nicht zur vielbeschworenen Schwarmintelligenz, mit der die Piraten arbeiten, immer auch die Schwarmblödheit?

Das ist kein Begriff, mit dem ich argumentieren möchte. Wir sind extrem gut darin, Meinungen zu aggregieren. Dabei kann immer etwas schief gehen, aber bei den Piraten steht am Ende eine demokratisch gefasste Entscheidung.

Welches das größte Risiko für die Piraten ist

Während der Debatte aber schlagen die Wellen oft extrem hoch, die Aufgeregtheiten sind viel größer als bei anderen Parteien.

Das stimmt, aber das ist ein Effekt, mit dem man leben muss. Ich sehe das als Ausdruck ehrlicher pluralistischer Politik. Wir streiten uns mit dem Ziel, politische Inhalte zu entwickeln, von daher kann ich das nur gutheißen.

Was sind die größten Risiken für die Piraten bis zur nächsten Bundestagswahl?
Das größte Risiko ist, dass wir uns nicht stetig weiterentwickeln. Aber wenn wir immer weiter daran arbeiten, besser zu werden, sind wir auf dem richtigen Weg.

Viele Piraten sind skeptisch, wenn ein Politiker, der schon ein Parlamentsmandat innehat, auch noch ein Parteiamt will. Warum sehen Sie das anders?

Ich sehe das in meinem Fall genau umgekehrt. Vermutlich wird es dazu kommen, dass Bundesvorstände für den Bundestag kandidieren werden. Ich aber bin in den nächsten Jahren Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Ich laufe nicht Gefahr, mein Engagement für den Bundesvorstand in irgendeiner Art und Weise mit einer Kandidatur für den Bundestag zu vermischen. Aber wenn meine Kandidatur für die Piraten ein Anlass ist zu klären, ob sie eine Trennung von Amt und Mandat wollen, finde ich das gut.

Ihr Fraktionskollege Gerwald Claus-Brunner hat Ihnen bereits Doppelmoral vorgeworfen: Sie hätten ihn kritisiert, als er sich in einer vergleichbaren Konstellation als Landesvorsitzender zur Wahl stellen wollte.
Ich habe ihn damals nicht kritisiert. Ich fand seine Kandidatur sehr spontan, aber ich glaube, er wäre ein guter Beisitzer im Landesvorstand gewesen.

Claus-Brunner hat, als Sie seinen Vorwurf öffentlich zurückwiesen, entgegnet, sie hätten die Kritik nicht selbst geübt, aber Helfer vorgeschickt.

Um es kurz zu machen: Ich habe ihn nicht kritisiert und ich habe auch niemanden vorgeschickt.

Sehen Sie hier, mit welchen Pannen die Berliner Abgeordnetenhausfraktion schon von sich reden machte:

Ein zweiter prominenter Berliner Pirat kandidiert für den Bundesvorstand: Bernd Schlömer will Parteivorsitzender werden. Ohnehin werfen Piraten aus anderen Landesverbänden den Berliner immer wieder Dominanz und Besserwisserei vor. Zwei Berliner in der Bundesspitze - wäre das einer zu viel?

Das müssen die Piraten entscheiden. Ich weiß nicht, ob die Zugehörigkeit zu einem Landesverband etwas aussagt über Kompetenz und Eignung. Ich bin nicht böse, wenn nur ein Berliner im Bundesvorstand ist, und auch nicht, wenn es drei sind.

Ihr Fraktionskollege Christopher Lauer hat kürzlich einen Auftritt in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner hingelegt, bei dem er mit Kurt Beck aneinander geriet und den viele als verunglückt empfunden haben. Danach schrieb Lauer in einem Beitrag für die FAZ selbstkritisch, die üblichen Talkshow-Auftritte zementierten ohnehin ein Bild von Politik und Politikern, das die Piraten ablehnen. Wie würden Sie es halten?

Ich mag Radioauftritte lieber.

Wer Zeitung liest oder Fernsehen schaut, muss glauben, die halbe Republik redet über die Piraten. Wann wird sich die Aufregung wieder legen?

Ich hoffe, bald. Die Piraten kritisieren oft, dass sich die Medien auf ein interessantes Thema konzentrieren und andere Themen dann hinter runterfallen. Ich würde mir wünschen, tatsächlich in den Medien wieder mehr über die aktuelle Politik in anderen Bereichen und auch über die anderen Parteien zu lesen.

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