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Berlin: Plötzlich Akteur der Weltgeschichte

Heinz Schäfer stand als DDR-Polizist am Checkpoint Charlie, als die Panzer auffuhren. Jetzt traf er einen früheren Gegner wieder

Er steht vielleicht fünfzig Zentimeter vor dem weißen Strich, den sie quer über die Friedrichstraße gepinselt haben und der anzeigt, dass hier die West-Welt zu Ende ist und die Ost-Welt beginnt. Seine Welt. Die weiße Linie mitten im Niemandsland zwischen dem sowjetischen und amerikanischen Sektor. Hinter ihm verläuft die Friedrichstraße, am Strich endet der „Demokratische Sektor“, vor ihm der Checkpoint Charlie, Grenzübergang für Ausländer, seit am 13. August 1961 Stacheldraht die Stadt in zwei Hälften teilt.

Er, Heinz Schäfer, Hauptmann der Volkspolizei, hat den Befehl, hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen. An diesem grauen Freitag, dem 27. Oktober, ist alles anders als sonst. „Drüben“ sind zehn Patton-Panzer aufgefahren, stählerne Festungen auf Ketten mit dem weißen fünfzackigen Stern der US-Army. Sie richten ihre Rohre gen Osten, wo an diesem Tag zehn sowjetische Tanks, moderne T 54 und ein paar alte T 34, durch die Friedrichstraße gefahren sind und nun an der Schützenstraße stehen, die Kanonen gen Westen ausgerichtet. 200 Meter liegen zwischen den Amis und den Russen in ihren rollenden Stahlbunkern, und Heinz Schäfer steht genau zwischen den Fronten des nun nicht mehr nur kalten, sondern schon etwas lauwarmen Krieges. Der Hauptmann der Bereitschaftspolizei nimmt seinen Job sehr ernst. „Am weißen Strich war für die Amis Schluss“, sagt der 80-Jährige heute, und: „Ich habe damit gerechnet, dass sie bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten gehen, aber keinen Zentimeter weiter“. So steht er da, als ein Panzer auf ihn zurollt, die Hände lässig auf dem Rücken verschränkt, wankt nicht und weicht nicht, bis der Amerikaner am magischen weißen Strich stoppt. „Ich kann heute nicht mehr sagen, was mir in dem Moment durch den Kopf gegangen ist, aber Angst hatte ich keine. Wir hatten unsere Aufgabe zu erfüllen.“ Und die lautete: „Westliche Alliierte in Uniform durften nicht kontrolliert werden, kamen sie aber in Zivil, sollten sie uns ihre Ausweise zeigen“ – und damit praktisch die DDR anerkennen. Die Amerikaner und ihre Verbündeten sahen damit ihre Bewegungsfreiheit in ganz Berlin eingeschränkt, während Walter Ulbricht den Vier-Mächte-Status mit dem Mauerbau beenden wollte und so die Panzerkonfrontation heraufbeschwor. Denn US-General Lucius D. Clay demonstrierte entschlossen so etwas wie Kampfbereitschaft: Mit uns ist nicht zu spaßen.

Die Atmosphäre in der Friedrichstraße rund um die Rotarmisten in und auf ihren Panzern war gespenstisch genug. Es stank nach Benzin, was führten sie hier und drüben im Schilde? Plötzlich erwachte die Erinnerung an den 17. Juni 1953, als – gleich um die Ecke in der Leipziger Straße – Sowjetpanzer halfen, den Aufstand niederzuwalzen. Die Okkupation in Ungarn lag gerade fünf Jahre zurück. Wollten die Russen mit ihrer Übermacht in einem Handstreich West-Berlin erobern? Oder war das Ganze nur Bluff und Muskelprotzerei? „Hätte nur einer von uns oder von den Amis die Nerven verloren und losgeballert – nicht auszudenken, was geworden wäre“. Ja, es waren Sekunden vor einem neuen Krieg, damals im Herzen Berlins.

Schließlich siegt die Vernunft auf beiden Seiten: Wie sie gekommen waren, verschwinden die Panzer, erst drehen die T 54 ab, dann die Amis. Nach 16 Stunden Nervenkrieg atmet Berlin auf: John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow hatten sich geeinigt: Ein Krieg in und um Berlin findet nicht statt. Die scharfe Munition wird in die Kasernen zurückgefahren. „Es war eine sehr kritische Zeit, aber das haben wir so gar nicht wahrgenommen“, sagt Heinz Schäfer, „uns ist erst später bewusst geworden, was hätte passieren können.“ Letztens traf der heute 80-Jährige im Alliiertenmuseum mit dem US-Soldaten Verner N. Pike einen Kontrahenten von damals. Der Ami erzählt, wie er herausfand, ob in den Panzern Russen oder deutsche Soldaten der Nationalen Volksarmee saßen: „In der Dunkelheit schlich ich mich an einen der Panzer heran. Die Besatzung war nicht an Bord, deswegen konnte ich in das Innere blicken. Dort lag eine Prawda. Da war klar: Es sind die Russen.“

Heute fotografieren Touristen am Ort des Geschehens die Fotos von damals und finden das alles very spannend. Wo die Sowjetpanzer standen, lädt Charlies Beach bei Musik der Copacabana zu „Drinks, Food und Chillout“, anstelle der US-Panzer steht nun ein (falscher) GI an der Kontrollbaracke, hält das US-Banner hoch und kassiert zwei Euro für ein Foto. Und Heinz Schäfer, der die Mauer nicht nur gebaut und bewacht, sondern auch am 9. November 1989 in Schönefeld geöffnet hat, trinkt auf das 50. Jubiläum seiner Begegnung mit dem amerikanischen Panzer einen „Veterano“ – im Urlaub in Spanien.

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