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Berlin: Poesie auf der Parkbank

Manuela Mechtel kümmert sich um die Problemkinder vom Neuköllner Reuterplatz. Die Autorin lässt sie Gedichte schreiben

Die Kinder vom Reuterkiez in Neukölln sind stadtbekannt. Sie gehen in die Rütli-Schule und sind als gewalttätig, zurückgeblieben und asozial verschrien. Manuela Mechtel hat andere Eigenschaften an ihnen entdeckt.

Seit einem guten Jahr kommt sie nachmittags auf den Reuterplatz, setzt sich auf eine Bank unter der großen Kastanie. In den Gründerzeitbauten um den Platz leben Familien mit vielen Kindern. Die meisten kommen aus Osteuropa und aus der Türkei, aus Palästina und dem Libanon. Manuela Mechtel kennt mittlerweile viele. Sie weiß, wer zu welchem Clan gehört und wer immer alleine ist. Sie sieht die blauen Flecken, wenn M. zu Hause geschlagen wurde und die verfaulten Milchzähne bei dem kleinen A. Sie kennt die Sieben- und Achtjährigen, die sich kaum fünf Minuten konzentrieren können und die, die nur von „Schlampen“, „ficken“ und „töten“ reden.

Aber es gibt auch andere. Kaum hat Manuela Mechter aus ihrer Tasche einen Schreibblock und einen Kugelschreiber geholt, schon kommen Mädchen und Jungen zur Parkbank gelaufen und wollen ihr eine Geschichte erzählen. „Ich zuerst, ich zuerst“, ruft ein dünnes, blasses Mädchen mit blonden Zöpfen und gelbem Kleid. Sie hat große Mühe, das „s“ zu sprechen. „Nein, ich bin dran“, drängt sich ein Junge vor. Dann fängt das Mädchen an, sie ist sieben Jahre alt:

„Es war einmal ein wunderschönes Mädchen. Da traf es noch ein wunderschönes Mädchen! Da trafen sie noch ein wunderschönes Mädchen!! Da sahen die drei einen Baum. Und da drauf war ein Kleid.“

Das Mädchen stockt, dreht mit den Fingern in den Haaren, lacht schüchtern. „Ein Kleid?“, fragt Manuela Mechtel. „Ja, ein Kleid!“. Das Mädchen macht weiter, Manuela Mechtel schreibt mit:

„Die eine hieß Klettermaus,

weil sie so gut klettern konnte.

Und die andere hieß Schönling,

weil sie so schön aussieht.

(Naja, alle sehen schön aus...)

Und die andere hieß Kleinling,

weil sie ein bisschen klein war...“

Manuela Mechtel hat einen Grundsatz: „Ich will mich nicht in die Familiengeschichten einmischen.“ Sie ist ausgebildete Puppenspielerin und Kinderbuchautorin. Sie will den Kindern ein Forum bieten, damit sie lernen, sich auszudrücken, damit sie merken, wie viel in ihnen steckt und dass sie viel mehr können, als ihnen zugetraut wird. Sie verfolgt kein pädagogisches Programm und bekommt dafür kein Geld. Sie macht das einfach so, weil sie spannend findet, wie Kinder mit Sprache umgehen und weil ihr die Kinder ans Herz gewachsen sind.

Auf dem Reuterplatz gibt es eine Liegewiese, einen Bolzplatz, einen Spielplatz und in einer Ecke ein Backsteinhäuschen, davor eine Litfaßsäule in Form eines Fliegenpilzes. Das Häuschen und der Pilz sind das „Kiosktreff“. Hier können die Kinder für 50 Cent mittags einen Teller Suppe bekommen, Würstchen, Obst. Außerdem kostenlos: Ansprache und Spiele. „Könnte eine Großstadtidylle sein“, sagt Mechtel. „Aber eigentlich ist das ein schrecklicher Platz.“ Es würden Drogen gehandelt. Die Kinder hätten Angst vor den Dealern, viele erzählten, dass ihnen Stoff angeboten werde.

„Der Goldene Löwe bricht seinen

Feinden

die Beine und die Arme.

Er vernichtet seine Feinde

in der Hasenheide

mit dem Todesschläger

und lässt sie kommen,

damit er sie alle schlagen kann.“

Das hat ein neunjähriger Junge gedichtet. Er hat schwarze kurze Haare und dunkle Augen. Er ist schmächtig und sieht aus wie sieben. Mechtel legt den Block beiseite, zieht die Beine in der verwaschenen roten Stoffhose hoch auf den Stuhl und erzählt, wie sie in Lateinamerika mit Straßenkindern ein Internettagebuch geschrieben habe. So sei ihr die Idee mit der Poesiewerkstatt für die Reuterplatz-Kinder gekommen. „Natürlich wussten die Kinder nicht, was das ist, Poesie“, sagt Mechtel, „jetzt wissen sie es. Ganz einfach“. Mechtel fährt sich mit der Hand durch die struppigen blonden Haare und lacht. Sie habe die Leute vom Kiosk gefragt, ob sie mit der Werkstatt einverstanden sind, eine weiße Papierdecke auf einen Tisch gelegt, Stühle darum gestellt und Stifte verteilt.

Nicht alle schreiben selbst. Manche diktieren und Mechtel schreibt. Eine Achtjährige fantasierte von Mama und Papa, die Kinder „tot machen“. Andere von den „Drei Schlampen und die drei Gangster“. „Auch wenn sie grausam anfangen, alle Geschichten enden in der heilen Welt“, sagt Mechtel.

Die Kinder seien ein Spiegel der Welt, in der sie aufwachsen. Sie seien kreativ, auch mit der deutschen Sprache. Aber ihr Wortschatz sei sehr begrenzt und voller schlimmer Ausdrücke. „Sie müssen sich von morgens bis abends durchsetzen in einer Welt, die von dieser Sprache, vom Recht des Stärkeren geprägt ist“, sagt Mechtel. Aber sie würden immer wissbegieriger. Würden sich Wörter erklären lassen, versuchten, sich grammatikalische Fehler in ihrer Alltagssprache abzugewöhnen. Fragten, fragten, erzählten und schrieben.

Manuela Mechtel sammelt die Geschichten der Kinder, schreibt sie zu Hause mit dem Computer ab. Nach der ersten Poesie-Werkstatt vergangenes Jahr hat sie jedem Kind eine kleine Broschüre mit allen Texten zusammengestellt. Die Kinder seien wahnsinnig stolz gewesen. Ihre Geschichten! In einem Buch! Aber dann hätten sich die Eltern beschwert. Sie wolle die Kinder schlecht machen, die würden gar nicht so Ausdrücke wie „Schlampe“ und „töten“ benutzen. Seitdem dichten die Kinder unter Fantasienamen. „Indisch Girl“ nennt sich eine Elfjährige, die Siebenjährige mit dem gelben Kleid ist „Regenbogenblume“.

Nach der Werkstatt dieses Jahr hat Mechtel die Gedichte auf Stelltafeln aufgezogen und vor dem Kiosk aufgestellt. Zur Eröffnung der kleinen Ausstellung wurden die Schulklassen der dichtenden Kinder eingeladen, es gab Saft und Obst. Eine Woche später sei das Ordnungsamt gekommen, habe die Tafeln mitgenommen. Ihren Schülern jagten die Uniformen einen Schrecken ein: Sie würden ihr nichts mehr erzählen, wenn dann die Polizei käme, hätten die Kinder gesagt, sagt Mechtel. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass das Kulturamt schlicht vergessen hatte, eine Genehmigung für die Tafeln einzuholen.

Die Kinder reimen weiter. Keiner erzähle die gleiche Geschichte zweimal, sagt „Frau Manuela“, wie die Kinder sie nennen. Jeder wisse, was er sich ausgedacht habe, auch wenn es ein Jahr her sei. „Die Kinder brauchen Ganztagsschulen und Lehrer, die sie fördern“, sagt Mechtel. Dann fügt sie an: „Und jemand, der an sie glaubt“. Sie wünscht sich, sie würden eine Chance bekommen.

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