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Berlin: Problemfamilien werden oft erst nach Jahren entdeckt

Präventive Besuche bei Familien von Neugeborenen wurden stark eingeschränkt Bezirke beklagen Personalabbau und Anstieg der „Verwahrlosungstendenzen“

Der soziale Niedergang in Berlin schreitet voran, die Jugend- und Gesundheitsämter haben aber immer weniger Möglichkeiten, Problemfamilien zu erkennen. So kann es passieren, dass gefährdete Kinder jahrelang ohne Hilfe von außen bleiben. Inzwischen wird selbst bei den früher flächendeckenden Hausbesuchen bei Neugeborenen gespart.

„Wir beschränken uns auf ganz junge Mütter, auf Mütter, die schon mal auffällig waren, und auf die Fälle, in denen uns die Entbindungskliniken Drogenkonsum der Mutter gemeldet haben“, heißt es etwa aus dem Bezirksamt Neukölln. Hier wird nur noch zu jeder vierten Familie mit Neugeborenem Kontakt aufgenommen. In Friedrichshain-Kreuzberg ist es noch jede zweite Familie. Mehr könnten die wenigen verbliebenen Mitarbeiter nicht schaffen, bedauert Amtsärztin Helga Nawroth. Das sei umso schlimmer, als es „immer mehr Familien gibt, die Verwahrlosungstendenzen zeigen“.

Inzwischen ist es üblich geworden, selbst ein bloßes Telefonat mit den Eltern statistisch als „Erstkontakt“ zu werten. So erläutert Spandau, dass rund zehn Prozent der Familien nur „telefonisch beraten“ wurden, weitere 39 Prozent bekamen einen Hausbesuch oder stellten sich im Amt vor. Außerdem müssen die Familien die Initiative übernehmen: Sie bekommen Flyer ausgehändigt, in denen die Telefonnummern des Jugendgesundheitsdienstes angegeben sind.

In den ehemaligen Ost-Bezirken wie Lichtenberg und Treptow-Köpenick funktioniert dieses Kontrollinstrument besser: Hier werden über 90 Prozent der Familien mit Säuglingen kontaktiert. Wie nötig das ist, zeigt der „Bericht über die Kinder- und Jugendgesundheit“ von 2003: Demnach wurde es aufgrund der Hausbesuche berlinweit bei 17,5 Prozent der Säuglinge für nötig befunden, eine sozialpädiatrische oder sozialpädagogische Betreuung zu empfehlen. In einem sozial schwierigen Bezirk wie Tiergarten waren es sogar 63,5 Prozent.

Wenn Problemfamilien nicht anlässlich dieser Neugeborenenbesuche erkannt werden, kann es passieren, dass sie den Ämtern jahrelang verborgen bleiben, denn auch bei den sozialpädiatrischen Untersuchungen in den Kindertagesstätten werden nur 23 Prozent der Kinder erfasst. Erst anlässlich der Einschulungsuntersuchung erhalten die Ämter Gelegenheit, an alle Kinder heranzukommen. Dann sind viele von ihnen aber längst Opfer mangelnder Förderung geworden: Stundenlanger täglicher Fernsehkonsum, schlechte Ernährung, mangelnde Zuwendung führen dazu, dass tausende Kinder bereits als ABC-Schützen Problemkinder sind.

„Es gibt viele Familien, die durch Armut oder mangelnde Bildung ihre Kinder nicht fördern können“, konstatiert Jeffrey Butler, der in Mitte die Einschulungsuntersuchungen auswertet. In seinem Bezirk macht die untere soziale Schicht schon die Hälfte der Familien von Erstklässlern aus. Berlinweit gehört nur rund ein Drittel dazu. „Die soziale Situation wird immer schlimmer“, sagt auch Thomas Abel, der in Mitte die so genannten Risikokinder betreut. Durch die anhaltenden Einsparungen werde es immer schwieriger, Sozialarbeiter in die Familien zu schicken. Kinder müssten erst „blaue Flecken“ haben, damit diese Hilfen schnell in Gang gesetzt würden.

Die Diskussion darüber, wie Kinder vor Verwahrlosung bewahrt werden können, ist wieder aufgeflammt, nachdem in Spandau zwei Kinder in einer völlig verdreckten Wohnung aufgefunden worden waren. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass den Ämtern wohl kein Versagen vorgeworfen werden kann, weil sich die Situation der Familie erst in jüngster Zeit drastisch verschlechtert hatte.

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