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Über 40 Jahre nach dem rätselhaften Tod des kleinen Mario ist es nun doch noch zum Prozess gekommen

© Imago

Prozess in Neuruppin: 42 Jahre nach Tod des Sohnes steht Mutter vor Gericht

Vor mehr als 40 Jahren starb ein Junge in Schwedt, erstickt an Kohlenmonoxid. Der mysteriöse Fall wurde wieder aufgerollt.

Um fünf Uhr morgens klingelte der Wecker. Wie jeden Morgen weckte Erna F. am 5. November 1974 in der Schwedter Thälmannstraße ihre Kinder: Martina, Carmen, und auch bei Mario will sie es versucht haben. Doch der Achtjährige war tot, erstickt an Kohlenmonoxid. Dem Notarzt schilderte die Mutter einen Unfall: Der Junge müsse nachts Kuchen genascht und am Herd gespielt haben – der Gashahn habe am Morgen offen gestanden. „Stadtgas riecht nach faulen Eiern, ich habe aber nichts gerochen“, sagte der Notarzt jetzt vor dem Neuruppiner Landgericht. Dort musste Erna F., eine äußerst gepflegt wirkende 74-Jährige, erstmals auf der Anklagebank Platz nehmen – 42 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes. Am heutigen Dienstag will Staatsanwältin Annette Bargenda ihr Plädoyer halten.

In der DDR wurde das Verfahren eingestellt

In der DDR war das Todesermittlungsverfahren „Mario F.“ eingestellt worden. Darüber hatte sich nicht nur der Notarzt gewundert, denn selbst wenn es sich um einen der damals häufigen Gasunfälle gehandelt haben sollte: Wie konnten die übrigen Familienmitglieder diesen überleben? Die Gasanlage war intakt gewesen, doch Rechtsmediziner stellten im Blut des Kindes einen Kohlenmonoxidgehalt von 73 Prozent fest. So viel Gas konnte es nur direkt an der Quelle einatmen, es wäre bewusstlos vor dem Herd zusammengebrochen. Aber die Mutter wollte es in seinem Bett gefunden haben.

Die Ermittler dachten an einen Schlauch, den Erna F. von der Küche ins Kinderzimmer gelegt haben könnte. Ergebnislos ließen sie den Flurteppich untersuchen, und die Ermittlungen gegen die lebenslustige, zweifach geschiedene 32-jährige Sekretärin des Bau- und Montagekombinats Ost wurden beendet. Doch 2009 ging bei der Staatsanwaltschaft Hannover eine anonyme Anzeige gegen die mittlerweile dort lebende Erna F. ein. Die Ermittlungen kamen wieder in Gang, denn seit der Wiedervereinigung verjähren auch in der DDR begangene Morde nicht mehr, allerdings richtet sich die Höchststrafe von zehn Jahren Haft nach den damals geltenden Gesetzen.

Viele Zeugen sind schon verstorben

Akribisch suchte Ermittler Franco S. nach Akten und Zeugen, von denen viele bereits verstorben sind. Doch gleichzeitig ist die Allmacht der Staatssicherheit gewichen, mit der Erna F., die regelmäßig als Prostituierte zur Leipziger Messe fuhr und mit etlichen Vorgesetzten ihres staatsnahen Betriebes ein Verhältnis unterhielt, Kontakt gehabt haben muss. Vor der Strafverfolgung könnte sie auch der Chef der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt Schwedt geschützt haben – ein mindestens inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er soll sich um sie gekümmert haben, seinen Namen gibt die Angeklagte aber nicht preis.

Nachbarn berichteten, dass sich die damals zwölfjährige Carmen stets um ihre jüngeren Geschwister kümmern musste, dass sich die Kinder oft auf der Straße aufhielten und bei den Hausbewohnern um Essen und Trinken baten. Häufig wurden sie geschlagen. Mario riss immer wieder von der Schule aus, flüchtete sich an die Bahngleise. Kurz vor seinem Tod kokelte er auf seiner Matratze, Rauch drang bis auf die Straße. Erna F. beantragte daraufhin die Heimunterbringung für ihren angeblich schwererziehbaren Sohn. „Doch die Mitarbeiter von Schule und Hort beschrieben Mario als absolut unauffällig“, sagte eine ehemalige Kollegin im Zeugenstand. „Er habe ein liebes Wesen. Das war schon komisch, dass der dann tot war.“

Die älteste Tochter erinnert sich an Merkwürdiges

Auch die älteste Tochter erinnerte sich an Merkwürdiges aus der kalten Mordnacht: Sie schlief gemeinsam mit ihrer vierjährigen Schwester bei geöffnetem Fenster und im Schlafzimmer der Mutter – was bis dahin völlig undenkbar war. Allerdings machte Carmen keinen Hehl daraus, wie sehr sie die Angeklagte hasst, die das aufmüpfige, pubertierende Mädchen zwei Jahre nach Marios Tod zum Vater abgeschoben hatte. In ihrer auf Video aufgezeichneten Vernehmung beteuerte Erna F. immer wieder: „Ich war das nicht gewesen, ich habe das nicht gemacht! Ich war stolz auf meinen Jungen!“ – „Mag sein, dass es Ihnen im Nachhinein leid tut“, entgegnete ihr Vernehmer Franco S. „Das hoffe ich zumindest.“

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