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Nett, aber mehr nicht: die deutsche Teilnehmerin Jamie-Lee.

© Britta Pedersen/dpa

Update

Bilanz zum Eurovision Song Contest: Freundlicher Mädchen-Pop reicht einfach nicht

Jamie-Lee hat nichts falsch gemacht. Doch beim ESC braucht man mehr als ein Manga-Outfit: am besten eine Botschaft mit Gänsehaut-Performance, wie Jamala zeigt. Und sonst? Viele Neuaufgüsse früherer Jahre.

Also wieder mal Letzter beim ESC. „Unverdient“, „unverständlich“ lauteten die ersten Reaktionen nach dem Desaster für den deutschen Beitrag beim Eurovision Song Contest. Elf Punkte gab es am Sonnabend für die 18-jährige Jamie-Lee und ihr Lied „Ghost“, was positiv betrachtet elf mehr sind als 2015, als die Anne Sophie eine schwarze Null schrieb. Freuen darf sich trotz allem die ARD: 9,33 Millionen Zuschauer verfolgten die Show, die vom Vorjahressieger Måns Zelmerlöw und seiner Moderatorenkollegin Petra Mende präsentiert wurde - der beste Wert seit 2011 als Lena in Düsseldorf antrat.

Unverständlich bleibt nach dem Abend aber das Unverständnis über die zweite Rote Laterne für Deutschland. Zugegeben, die junge Dame mit dem Vornamen aus dem RTL2-Nachmittagsprogramm, gewählt von den deutschen Zuschauern, hat nichts falsch gemacht. Sie stand in ihrem adretten Outfit, das japanischen Comics entlehnt ist, auf der Bühne und ließ die Antennen auf ihrem Hut nur wackeln, dass es eine Freude war.

Doch der Vergleich mit dem Siegerbeitrag "1944" aus der Ukraine zeigte einen mächtigen Mangel des Manga-Mädchens: Hier das nette Fräulein im netten Kostüm, das einen netten Text zu netter Musik vortrug. Dort die gestandene Sängerin Jamala mit gewaltiger Stimme, die aus ihrem Auftritt eine Performance machte. Hier freundlicher Mädchen-Pop, dort eine nicht gerade eingängige Komposition, die aber aufhorchen ließ. Hier Ohr raus, dort Ohr rein. Oder, um es mit dem Werbefernsehen zu formulieren: Hier Knoppers, dort das kleine Steak. Spätestens seit dem Sieg von Conchita Wurst hätte aber den deutschen Verantwortlichen klar sein müssen, dass Nettigkeit vielleicht ein bisschen wenig ist.

Aber der gravierendste Unterschied zwischen zwischen Erst- und Letztplatzierten: Jamalas Beitrag hatte eine Botschaft. Die Künstlerin wuchs in Kirgistan auf, weil ihre Vorfahren als Krim-Tataren 1944 vertrieben wurden. Stalin verdächtigte das muslimische Volk der Kollaboration mit den Deutschen und deportierte es nach Zentralasien. Das Leiden ihrer Urgroßeltern hat die 32-Jährige zum Thema des Liedes gemacht.

Dank der Gänsehaut-Performance konnte es auch der verstehen, der diese Turk-Sprache eher selten spricht. Da mochte ihr Team noch so sehr versichern, dass der Beitrag keine Anspielung auf die Annexion der Krim durch Russland sei: Die ESC-Fans verstanden sehr wohl den Subtext und katapultierten den Song an die Spitze, was wegen eines veränderten Abstimmungsmodus auch noch zum Showdown zwischen Russland und der Ukraine führte (übrigens schöner Stoff für Verschwörungstheoretiker ...).

Lieber gut kopiert als schlecht selbst gemacht

Größte Verliererin neben der netten Deutschen war die Australierin Dami Im, deren Land zum zweiten Mal am Wettbewerb teilnahm. Denn die meiste Zeit führte ihr hitparadenfähiger Song „Sound Of Silence“ das Feld an, und die stimmgewaltige Dami Im sah auch schon wie eine Siegerin aus – bis eben Jamala nicht nur an ihr, sondern auch am Russen Sergey Lazarev vorbeizog.

Sein „You Are The Only One“ war ein obendrein ein Beispiel für etwas, was den bunten Abend aus Stockholm ebenfalls kennzeichnete. Motto: Lieber gut kopiert als schlecht selbst gemacht (und das soll keine Anspielung darauf sein, dass China erstmals zugeschaltet war). Nachdem der Schwede Måns Zelmerlöw im vorigen Jahr seine herzigen Video-Strichmännchen tanzen ließ, baute sich der Russe eben auch mal vor der Fernsehwand auf. Die coole 3-D-Optik des Auftritts verfehlte ihre Wirkung nicht und lenkte davon ab, dass der am Ende drittplatzierte Song eigentlich wie Modern Talking nach ihrer Wiederauferstehung Anfang der 2000er klang.

Weitere Beispiele? Spanien schickte ein Penélope-Cruz-Look-a-like auf die Bühne, Zypern hörte sich wie The Killers an, Kroatien kam mit weißblonder Gabriele-Krone-Schmalz-Frisur und Cranberries-Stimme, Holland kopierte gleich die eigene Country-Nummer vom vorletzten Mal, Belgien staubte ein paar Takte von Queens „Another Bites The Dust“ ab. Georgien wird an dieser Stelle die Liam-Gallagher-Matte verziehen, weil sein electrolastiger Rock wirklich aus der Rolle fiel (und es einen Punkt für Deutschland gab).

Österreich erschien dann noch als Vanessa Paradis und steuerte schrägerweise den einzigen vollständig auf Französisch gesungenen Beitrag des Finales bei, was wenig überraschend zu guten Werten aus Paris führte. Bahnt sich da etwa was an, nach dem Motto: Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate? Und dann kam da noch ein Sänger, der wie Justin Timberlake aussah. Ach, war ja der echte; er durfte aus unerfindlichen Gründen seine neuesten Single vorstellen

Zu gern hätte man "Color Of Your Life" auf Polnisch gehört

Überhaupt war es schade, dass die Nationalsprachen kaum keine Rolle mehr spielten. Zu gern hätte man doch gehört, wie Michal Szpak mit seiner Ballade „Color Of Your Life“ auf Polnisch klingt. Der Auftritt des jungen Mannes mit Louis-XIV.-Mähne und Zirkusdirektoren-Mantel gehörte zu den Überraschungen in Stockholm, weil er nach dem Voting der nationalen Jurys zu den Keller-Kindern um Jamie-Lee gehörte, dann aber von den Zuschauern nach vorn gewählt wurde.

Tja, und Jamie-Lee? Sie wird jetzt sicherlich überall als unverdient Letztplatzierte herumgereicht. Man sollte es ihr ersparen und sie in Ruhe Abi machen lassen. Das wäre nett.

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