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Bondage. Fernando (Paul Hamy) als Wiedergänger des Heiligen Sebastian.

© Salzgeber

João Pedro Rodrigues' „Der Ornithologe“: Wanderer zwischen den Welten

Odyssee im Wald: Der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues beschwört in seinem poetischen Film „Der Ornithologe“ menschliche Urängste.

Der Mensch ist klein aus der Steinadlerperspektive. Dichte Wälder, schroffe Felsen, der Fluss tief unten in der Schlucht ein endlos sich windendes Band – und Fernando (Paul Hamy) in seinem Kajak schrumpft zum winzigen Punkt. Die Natur, diese Kathedrale der Schönheit, lehrt Demut. Vor allem, wenn der Handyempfang abbricht und die Steinadler und Schwarzstörche bei der umgekehrten Beobachtung durchs Fernglas derart viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass Stromschnellen den Kajak zum Kentern bringen. Alle Macht den Wassern – und Schluss ist mit dem Ornithologen.

Aber da dieser Film von dem portugiesischen Kinomagier João Pedro Rodrigues stammt, hat die unbarmherzige Natur nicht das letzte Wort. Rodrigues, ein Star des queeren Autorenfilms in seinem Land, lädt vielmehr zu einem psychedelischen Trip, betörend, surreal, fantasmagorisch. Der Regisseur bevölkert die Schlucht, den Wald und den Fluss mit Jakobspilgerinnen und Märtyrergestalten, mit Göttern, Geistern, Schamanen – und einer weißen Taube, wie sie in der Bibel nach der Sintflut auftaucht. Und er schickt den Ornithologen auf eine Odyssee zwischen den Welten, zwischen Tag und Traum, Himmel und Hölle, Glaube und Aberglaube, Leben und Tod, Epiphanie und Blasphemie.

Bei Sonnenaufgang droht die Kastration

Fernando hat sich in eine entlegene Gegend im Norden Portugals zurückgezogen, wegen einer Beziehungskrise, sein Freund macht sich Sorgen per SMS. Den Stromschnellen-Unfall überlebt der Vogelkundler dank zweier chinesischer Pilgerinnen, die sich alsbald als Sadistinnen entpuppen und ihn nach Art des Heiligen Sebastian an einen Baum fesseln. Bei Sonnenaufgang droht die Kastration. Folgen Selbstbefreiung, Sex mit Jesus, einem taubstummen Ziegenhirten, der jedoch mörderisch endet, Heimsuchungen, Spuknächte, Metamorphosen. Fernando, ein Weltenwanderer, ein Gejagter, Verlorener, Suchender, Wiedergänger. Der letzte Mensch – oder vielleicht auch der erste.

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Bald weicht die irdische Logik in „Der Ornithologe“ einer obsessiven, übernatürlichen Bilderpoetik. Der Wald, laut Rodrigues „Ausdruck des kollektiven Unbewussten“, verwildert zum Dschungel, ein Uhu breitet seine Schwingen aus, ein Nashorn lugt um die Ecke. Flora und Fauna entwickeln eine Aura, die jede traditionelle Epiphanie in den Schatten stellt. Bondage-Märtyrerbody, Finger in der Seitenwunde, Jesus und seine Jünger: Es wurde Zeit, dass mal einer die latente Homoerotik des Katholizismus in Kinomagie übersetzt. Und auch wenn Rodrigues es übertreibt mit all den Offenbarungen, die Fernandos Weg säumen, von alkoholisierten Veitstänzern über Zivilisationsmüll-Totempfähle bis zu den mit Pfeil und Bogen herbeireitenden barbusigen Amazonen – seine Beschwörung menschlicher Urängste hat große suggestive Kraft. Alleine die Tonspur: Mal kratzt ein Bogen auf einer Kontrabasssaite, mal säuselt böse der Wind, plätschert der Fluss bedrohlich und nervenaufreibend, erhebt sich ein Himmelssturm.

„Der Ornithologe“, ausgezeichnet mit dem Regiepreis des Filmfests Locarno, versteht sich auch als etwas andere Heiligenlegende. Am Ende predigt Fernando den Fischen wie einst Antonius von Padua, in den er sich alsbald verwandelt (und der Schauspieler Paul Hamy wechselt die Gestalt mit dem Regisseur). Fernando ist der Geburtsname von Antonius, dem Landesheiligen Portugals, der sich mit den Tieren besser verstand als mit den Menschen. Und wer weiß, vielleicht sieht die Welt in den Augen eines Steinadlers ja tatsächlich so aus wie in diesem Film. Ob wir es je erfahren?

International, OmU: Eiszeit, fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, Wolf, Zukunft

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