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Berlin: Ralph Zorn (Geb. 1926)

Von North Carolina geradewegs in den Wedding

Hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen.“ Martin Luther King sprach, und Tausende wollten ihn hören. Am 13. September 1964 predigte der Bürgerrechtler in der Ost-Berliner Marienkirche. Gegen den Willen des State Departements, das ihm den Reisepass entzogen hatte, damit er gar nicht erst in den Osten kommen konnte, um dort den Kommunisten nach dem Mund zu reden.

Suspekt war der spontane Martin-Luther-King-Besuch auch der Staatsführung in Ost-Berlin, aus Sorge, er könnte drei Jahre nach dem Bau der Mauer offene Grenzen und Freiheit einfordern. Entsprechend abweisend reagierten die Grenzer. „Sie müssen ihn doch kennen, alle Welt kennt ihn“, redete Ralph Zorn, sein Begleiter und Dolmetscher, auf die Beamten am Checkpoint ein. Sie waren unschlüssig, sie konnten ihn nicht ohne Weiteres passieren lassen, ihn aber zurückzuweisen schien ebenso unmöglich. Er solle sich doch bitte irgendwie legitimieren. Martin Luther King zückte seine American Express Card.

Fünf Generationen Prediger. Ralph Zorns Urgroßvater, ein Missionar, war von Leipzig nach Indien gegangen, hatte sich dort mit den Oberen der Missionsgesellschaft überworfen, weil er ihren kolonialistischen Hochmut verachtete, und war weiter nach Amerika gezogen. Ralph Zorns Lebensweg schien vorgezeichnet, er hätte in god’s own country ein geruhsames Leben als Pfarrer führen können, aber auch ihn trieb die missionarische Unruhe.

Als Austauschvikar kam er nach Berlin, 1950 war das, und er lernte Hildur kennen, sein ganz persönliches preußisches Liebesglück. Als sie zwischen einem Aristokraten und ihm, dem Amerikaner, dem Befreier, dem Feind zu wählen hatte, fiel ihr die Entscheidung leicht. Hildur war die Tochter des Generals Kurt von Hammerstein, der Eigensinn lag in der Familie, aber das ist eine andere Geschichte, eine, die Hans Magnus Enzensberger erzählt hat.

Hildur blieb über 60 Jahre lang seine große Liebe, seine Freundin und seine Komplizin, wenn es notwendig war. Sie hatte ihren 21. Geburtstag mit ihrer Mutter im Gestapo-Gefängnis verbracht, weil sie mitsamt der ganzen Familie des Widerstands verdächtigt wurde. Sie war damals nicht ängstlich gewesen und war es auch in ihrem späteren Leben nie. Sie ließ sich auch von der Stasi nicht einschüchtern, als deren West-Berliner Handlanger in die Tempelhofer Wohnung einbrachen, um Unterlagen über den West-Ost-Transfer von Kirchengeld zu stehlen.

Anfang der fünfziger Jahre gingen die beiden nach Amerika und gründeten eine Familie. Fünf Kinder wurden geboren. Ralph Zorn fand eine Anstellung in Charlotte, North Carolina. Alles hätte seinen ruhigen Gang gehen können, aber er überwarf sich mit den Kirchenoberen, weil er die Rassentrennung für unchristlich hielt. „Tu, was du tun musst.“ Seine Frau stärkte ihm den Rücken. Er nahm einen Job als Gießereiarbeiter an. Da ergab sich die Chance auf eine Pfarrstelle in Berlin, damals keine allzu verlockende Aussicht.

Von North Carolina geradewegs in den Wedding, die Friedensgemeinde, direkt an der Grenze. 50 Meter von der Wohnung bis zur Mauer. „Macht hoch die Tür, das Tor macht weit“, das Adventslied klang anders in der Wolliner Straße. Zwölftausend Seelen versammelte die Friedens-Gemeinde, mehrheitlich Erlösungsunwillige, denn damals war der Wedding rot. „Is ja janz schön, wat’ Se so erzählen, Herr Zorn, aba unter uns, is doch Keese, wa?“

Im Gottesdienst meist nur Ältere, selten mehr als hundert, und die Bibelstunde fand anfangs in einer ehemaligen Kneipe statt.

„Ich will von euch in Anspruch genommen werden! Gebt mir eine Chance!“ Die bekam er. Dank der Tischtennisplatte und der Cola-Bar, und dank seines unerschütterlichen Gottesglaubens.

Ralph Zorn war immer im Dienst, die Gemeinde war Familie, die Familie Gemeinde. In Neu-Tempelhof war es nicht anders, dort blieb er bis 1986, dann zog er sich aus dem dienstlichen Leben zurück: „Man regiert nicht über den Tod hinaus“. Was natürlich nicht hieß, dass er untätig wurde. Er war gedanklich immer unterwegs, bereit sich auf den Weg zu machen, sei es nun in Berlin, um die Predigten anderer zu hören, in Polen, um die Freundschaft mit den Nachbarn zu stärken, oder im Rest der Welt, wo er als Repräsentant des lutherischen Weltbundes missionierte, ohne dass es als Missionsarbeit aufgefallen wäre.

Ein von Gott Begeisterter – nicht von dem strafenden, rächenden, befehlenden Gott, sondern von dem liebenden. Natürlich war er traurig, dass keiner seiner Söhne seinen Weg einschlug und Prediger wurde. Er nahm es ihnen nicht übel, denn das sind Gottes Wege. „Die Gnade des Heute ist genug. Morgen ist seine Sorge – lassen wir es so. Nimm dieses Angebot an – und hab’ einen guten Tag.“

Jeden Morgen las er in den Herrnhuter Losungen, immer fand er ein Bibelwort, das ihn leitete. Selbst als seine Frau starb im Kreis der Familie, der Kinder, Enkel und Urenkel, trug ihn sein Gottvertrauen. Und als er selbst aufgebahrt wurde, und die Menschen an sein Bett traten, dankbar, dass er gewesen war und gewirkt hatte, da war Freude zu spüren. So einfach ist das mit dem Glauben: Man muss ihn nur leben.

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