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Berlin: „Rational spricht nichts gegen Degussa“

Israels ehemaliger Botschafter Avi Primor über den Chemiekonzern, das Holocaust-Mahnmal – und Richard Wagner

Herr Primor, das Kuratorium der Stiftung des Holocaust-Mahnmals will Degussa den Auftrag für den Graffitischutz der Stelen entziehen. Eine richtige Entscheidung?

Das ist eine emotionale Entscheidung. Es gibt beim Holocaust eben Dinge, die nicht nur mit Ratio, also Vernunft bewertet werden können. Das ist ähnlich wie bei der Diskussion in Israel über die Musik von Richard Wagner. Wir wissen, dass Hitler ein fanatischer Fan des Komponisten war, und der war wiederum selbst ein Antisemit. Aber es geht um die Musik. Und die steht für sich. Mit Ratio würden die meisten Israelis und Juden also sagen: Ich schätze Wagners Musik als solche. Dennoch wird in Israel bei öffentlichen Veranstaltungen keine Wagner-Musik gespielt. Weil es Leute gibt, für die diese Musik schlimme Gespenster aus der Vergangenheit weckt. Darauf muss man Rücksicht nehmen. Beim Holocaust-Mahnmal und Degussa ist das ähnlich.

Rational spricht also nichts gegen die Auftragsvergabe an Degussa?

Nein.

Wie hätte sich ein Kuratoriumsmitglied Avi Primor entschieden: Degussa ja oder nein?

Ich hätte mehr als rational entschieden. Weil ich weiß, dass Degussa viel für die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und für die Wiedergutmachung getan hat.

Der Umgang mit der Vergangenheit von Degussa spricht also eher für deren Beteiligung?

Das Unternehmen Degussa von heute hat nichts mehr mit der Degussa der NS-Zeit zu tun. Der Konzern hat viel für das Verhältnis zu den Juden getan. Zum Beispiel hat die Firma das Museum der Diaspora in Tel Aviv großzügig unterstützt. Und dort wird an das Leben der ermordeten Juden erinnert. Auch bei der Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter hat sich Degussa sehr engagiert.

Degussa hat sich verdient gemacht?

Durchaus. Wir Israelis haben den Deutschen doch immer vorgeworfen, sie hätten die Tendenz, ihre Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, sie zu verdrängen. Degussa hat genau das Gegenteil getan.

Wie reagiert Israel auf Degussa ?

Wenn ich die Israelis richtig einschätze, dann wird es eine Mehrheit geben, die die Sache rational beurteilt. Und es wird eine Minderheit geben, die das gefühlsmäßig beurteilt. Eben wie bei Wagner.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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