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Reading BERLIN: Seite 22

An jeder Ecke sieht man Menschen,die in Büchern lesen. Andreas Merkelfragt sie, was darin gerade passiert

An einem zähen, halbgrauen Montagmittag, der sich irgendwie nicht zwischen Sommer und Herbst entscheiden konnte, war ich mit dem zukünftigen Bestsellerautor Jan „Gegen die Welt“ Brandt zum Mittagessen verabredet. Der Vegetarier Brandt hatte den „Kreuzburger“ in der Oranienstraße vorgeschlagen. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, dort einen vegetarischen Burger zu bestellen. Aber ich war fast fertig mit Charlotte Roches „Schoßgebeten“ und von der großartig unsympathisch dargestellten Pseudo- Offenheit, der moralischen Selbst-Korruption ihrer Ich-Erzählerin so begeistert, dass ich dann doch lieber den Chiliburger mit „Biofleisch“ nahm (man konnte wählen zwischen „Normal“ und „Bio“ für 50 Cent mehr) ...

Dann tranken Jan Brandt und ich noch einen Kaffee gegenüber und diskutierten über unsere grundverschiedenen Erzählideologien: episch nicht legitimiertes Erzählkino hier, klassische Geschichtsvernichtung im Anti-Roman dort. Brandts 900 Seiten abendländische Nato-Melancholie gegen meine postislamistische Fröhlichkeit des ewigen Prologs. Bis an den Nebentischen die Gespräche verstummten, Menschen aufstanden und gingen, Applaus klatschten oder einfach nur anfingen zu heulen.

Auf dem Rückweg fuhr ich mit dem Rad am Oranienplatz vorbei und sah meinen nächsten Leser auf einer Parkbank mit seiner schlafenden Freundin neben sich. Spontan (oder vielleicht auch nur gefährlich aufgeputscht von dem Disput mit Brandt) hielt ich an. Leise hockte ich mich neben die Bank und erklärte dem Leser mein Anliegen.

Der Spanier, wie sich herausstellte, antwortete mir in hervorragendem Englisch und war einverstanden, dass ich ihn mit seiner schlafenden Freundin fotografierte. Er las ein soziologisches Sachbuch: „La era del vacío. Ensayos sobre el individualismo contemporáneo” von Gilles Lipovetsky. Auf Deutsch vielleicht: „Die Ära der Leere. Nüchterne Untersuchungen des gegenwärtigen Individualismus“. Das Buch war bei Anagrama erschienen, dem spanischen Verlag meines Idols Roberto Bolaño. Der Spanier fragte mich, ob das zu theoretisch sei. Ich sagte etwas wie: Macht nichts, irgendwann ist immer das erste Mal.

Der Spanier war erst auf Seite 22 und übersetzte mir den Satz, den er gerade gelesen hatte: „The language made some echo of seduction“. Zuerst sprach er das spanische „eco“ so aus, dass es auf Englisch wie „Öko“ oder „Ego“ klang. Ich fragte sicherheitshalber nach, bis wir auf die richtige Bedeutung kamen: „Die Sprache erzeugte ein Echo der Verführung.“

Wir hatten die ganze Zeit sehr leise gesprochen, damit die Freundin nicht geweckt wurde. Ich bedankte mich bei dem Spanier für das Foto und den schönen Satz, und als wir uns verabschiedeten, sagte auch die Freundin ganz leise: „Ciao!“ Als wäre sie selbst das Echo eines Traumes (oder ihres Freundes).

Andreas Merkel

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