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Das Kunstwerk "Molecule Man" des US-amerikanische Künstlers Jonathan Borofsky in der Berliner Abendsonne.

© dpa

Regelungswahn in Berlin: Stoppt die Diktatur der Egoisten!

Spielende Kinder, Konzerte, Fußball: Was vielen Freude bereitet, klagen wenige immer öfter aus der Öffentlichkeit Das Regelwerk, das dies möglich macht, ist in der sich verdichtenden Stadt dringend reformbedürftig.

Ein Grund zur Klage findet sich immer. Ab 22 Uhr muss es bei Konzerten leise sein auf der Zitadelle Spandau, weil jenseits der Trutzburg auf der anderen Havelseite eine Anwohnerin ihre Ruhe haben will; Eigenheimbesitzer kämpfen gegen einen zu lauten Spielplatz, weil sie um den Wert ihrer Grundstücke fürchten; Anwohner prozessieren gegen die abendliche Nutzung von Sportplätzen, vertreiben einen alteingesessenen Klub oder stören sich an zu geringen Abständen oder Verschattungen durch Neubauten. Ticken die nicht mehr richtig?

Wo viele Menschen eng nebeneinander leben, geht es nicht ohne Toleranz. Doch immer häufiger wird das ignoriert von Egoisten, die ihren Kiez allein nach ihren Regeln gestalten wollen – und der Rest darf unter der Diktatur der Minderheit leiden. Dabei ist doch die bunte Mischung, ein Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholen das, was Berlin so liebenswert macht, weswegen die Menschen hierher ziehen: Im Erdgeschoss die netten Läden, die möglichst lange auf haben sollen, darüber die Wohnungen, die Clubs gleich nebenan, der Arbeitsplatz in fußläufiger Distanz und das Gartenlokal an der Ecke. Berliner Mischung eben. Doch wehe, wenn der Tischler sägt. Dann wird aus dem traditionellen Handwerksbetrieb im Hinterhof der Störenfried, den die Mieter im Neubau nebenan vor Gericht zerren.

Kampfzone Nutzungsmischung. Und wo ein Wille ist, ist meist auch ein Rechtsweg. Denn die Verwaltungsvorschriften, ob das Bauplanungsrecht, die Lärmschutzverordnung oder das Immissionsschutzgesetz geben für clevere Anwälte immer einen Ansatzpunkt her, um der Klage zum Erfolg zu verhelfen. Vor allem jene Berliner, die sich eine Wohnung gekauft haben, meinen, damit auch ein Recht auf eine ruhige Umgebung durchsetzen zu können. Stück für Stück stirbt so die lebendige Stadt, in der jeder nach seiner Façon selig werden kann.

Der Autor Gerd Nowakowski.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Stadt-Neurotiker können aber nur deshalb so erfolgreich sein, weil das ganze Regelwerk aus Zeiten stammt, wo derlei Streitwut noch ziemlich unbekannt war. Lärm etwa, vom Straßenverkehr über die Handwerker im Hinterhof oder dem Spielplatz, wurde früher von jedermann selbstverständlicher als normale Folge eines städtischen Nebeneinanders angesehen. Es ist alarmierend, dass Architekten nun vermehrt Brandwände zur Nachbarparzelle bauen oder unansehnliche Fassaden entwerfen, die sich gleichsam von der Straße abwenden, um Nachbarschaftskonflikte von vornherein zu vermeiden.

Die bundesweit geltende Lärmschutzverordnung oder das Immissionsschutzgesetz mit einheitlichen Grenzwerten mag für Buxtehude ausreichend sein, in einer Millionenstadt wie Berlin sind die Regelungen weltfremd. So werden die Grenzwerte vor dem offenen Fenster gemessen – ohne jede Berücksichtigung, ob es gute Schallschutzfenster gibt. Geht es mit der Klageflut weiter, ist irgendwann die Berliner Mischung bedroht. Stadtplaner warnen bereits vor der Gefahr einer entmischten Stadt, wo das Wohnen wieder fein getrennt von Arbeiten und Einkaufen und Vergnügen existiert – mit entsprechend langen Autofahrten. Das Ende der kurzen Wege zwischen den Lebenssphären konterkariert dann aber auch die Idee einer umweltgerechten Stadt.

Berlin benötigt deshalb zum Selbstschutz eine neue Justierung des Regelwerks, um das friedfertige Nebeneinander zu erleichtern und Streithubern den Boden zu entziehen – eine zeitgemäße Großstadtcharta. Sinnvoll wäre es, einen neuen Typus von innerstädtischem Wohngebiet zu definieren, um Wohnen, Arbeiten und Vergnügen gleichberechtigt zu ermöglichen. In der jetzigen, bundesweit einheitlichen Baunutzungsverordnung gibt es diese Kategorie nicht, obwohl auch andere Großstädte das Problem kennen. Um die Berliner Mischung zu retten und die Klageflut zu beenden, wäre eine politische Initiative im Bundesrat sinnvoll. Dann wäre Schluss mit der Diktatur der Partikularinteressen. Wer Stadt will, der weiß dann, worauf er sich einlässt und kann keine Friedhofsruhe beanspruchen. Wer sich in der Stadt niederlässt, muss auch mit ihr leben.

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